Oder: Maj, es is so schen ruhig!
[in DUM 66, Das Ultimative Magazin, Juni 2013]
Dienstag, 20. September. 7 Uhr 20. Morgenjournal. Das gönne ich mir jeden Morgen zum Frühstück. Heute sehr leise. Die Oma schläft im Nebenzimmer. Ich werde doch nicht zwei Wochen lang auf das Bisserl Kultur verzichten. Zwei Wochen im Jahr die Schwiegermutter zu Hause zu haben, ist doch nicht die Welt. Sie schläft ja so viel. Bis zehn, halb elf manchmal. Und zwei Stunden Mittagsschlaf. Maj, i hob verschlafn a wengerl.
8 Uhr 30. Ich sitze vor dem Computer. Heute kümmere ich mich um Übersetzungsförderungen und, wenn noch Zeit bleibt, um den Steuerausgleich. Sage ich seit drei Wochen. Aber zuerst die Post abfragen. Keine Spams, aber jede Menge unnötige Informationen, ein russisch-englisch Übersetzerworkshop, eine Lesung in Berlin, ein Kongress in Paris, und ein Urlaubsbericht von Freunden. Mit riesigen Photos, versteht sich, die eine Zeit lang den Computer lahmlegen.
9 Uhr. Ich höre, dass die Oma aufgestanden ist. Sie hat sicher den Wecker gestellt, damit sie unseren Alltag nicht durcheinander bringt: Wegen mia miaßt ihr net… ist ihr Leitmotiv. Ich flitze in die Küche, richte ihr ihre zwei Toastscheiben mit Butter und Marmelade. Und schenke ihr den Kaffee ein. Ich erkläre, dass ich viel Arbeit habe, ihr aber beim Mittagessen Gesellschaft leisten werde.
Die Homepage des Ministeriums listet die Bedingungen für die verschiedensten Förderungen und Stipendien auf. Robert-Musil-Stipendium, Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis – Geduld ist angesagt – Österreichischer Staatspreis für Kinderlyrik – was es alles gibt – Übersetzungsprämie, das könnte was sein … die Übersetzung sollte während der letzten fünf Jahre in Buchform erschienen sein, das ist es doch nicht, Reisestipendium… kann ich nicht brauchen, um eine Autorin zu übersetzen, die ihr Leben lang in Wien und Klosterneuburg verbracht hat… Mit halbem Ohr habe ich mitbekommen, dass die Oma schwimmen gegangen ist. Maj, so schen… Ihr Genuss, wenn sie bei uns ist. Es ist nicht der Traunsee, den sie gewohnt ist, aber immerhin. Im Bikini mit über neunzig. Und Badehaube, natürlich. Die sie sich selber näht aus einem Plastiksackerl von der Gemüseabteilung. Süß schaut sie aus, wie sie senkrecht schwimmt. Hundert Tempo. Ihr Ehrgeiz. Sicherheitshalber schaue ich in einer Stunde nach, wie es ihr geht. Übersetzungskostenzuschuss, das wird es sein. Kriterien und Bedingungen: Übersetzung der Werke vor allem zeitgenössischer österreichischer AutorInnen im Bereich Belletristik. Jawohl. Zeitgenössisch… meine Autorin ist zwar voriges Jahr gestorben, aber von lebendig ist hier nicht die Rede. Erforderliche Einreichungsunterlagen… einmal tief durchatmen: Förderungsantrag, Projektbeschreibung, Kalkulation, Lebenslauf und Werkverzeichnis der ÜbersetzerIn, 30 Seiten Übersetzungsproben, Originaltext, Kopie des Lizenzvertrages und des Verlagsvertrages.
Während ich Lebenslauf und Publikationsliste aktualisiere, vernehme ich, dass die Oma wieder in der Wohnung ist und sich unten fertig macht. Komische Geräusche im Vorraum. Ich versuche, aus alten Projektbeschreibungen eine für meine jetzige Übersetzung zu basteln. Inzwischen ist es fast elf geworden.
Ich gehe die Post holen. Oma sitzt tatsächlich im Vorraum vor dem Spiegel, die Füße in einem Wasserkübel und dreht sich gerade die letzten Lockenwickler in die Haare. Mariantjosef, wie schau i denn aus? Mir laßt’s koa ruah… Sie lächelt verlegen. Ich lächle freundlich zurück. Auf dem Rückweg kündige ich ihr das Mittagessen für eins an, wenn David nach Hause kommt, und heize das Rohr vor. Das lässt mir ein wenig Zeit, meine Unterlagen fertigzustellen. Wann kumt der bua hoam? Schwerhörig ist sie auch.
Unter den neuen Mails ist eine aus Berlin: Die Kollegin kündigt an, dass wir am Nachmittag unsere Texte via skype unbedingt vergleichen sollten. Das Drehbuch, das wir uns geteilt haben, bereitet keine großen Schwierigkeiten, aber die rekurrenten Ausdrücke sollten einheitlich sein. Ich bestätige eine Arbeitssession für 15 Uhr 30. Den Steuerausgleich werde ich halt auf morgen verschieben. Auf einen Tag kommt es ja nicht an.
Um 12 Uhr 30 gehe ich wieder runter. Irgendwie war es blöd, den Ofen so lange leer laufen zu lassen. Oma sitzt nun im Esszimmer und strickt. Oans, zwoa… das varsteh i net… Sie nimmt mich nicht einmal wahr. Ich schiebe eine Fertiglasagne ins Backrohr. Bereite einen Gurkensalat vor. Ich decke den Tisch und fange ein lautes Gespräch an. Selbst mit Hörgerät versteht sie nämlich nur die Hälfte von dem, was ich sage. Ich rede ja nicht Mundart. Anstrengend so ein ganzes Essen. David lacht über die Missverständnisse. Nach einiger Zeit wagt sie ein naives Maj, wie hast denn so schnö eine lasagne gebacken? Und ich gestehe, was die Alutasse ohnehin verrät. Ich denke, dass Oma mich für eine Rabenmutter hält. Wobei es viel Schlimmeres in ihrer Weltvorstellung als eine arbeitende Mutter gibt, es sind die Schlüsselkinder. Ich arbeite wenigstens zu Hause. Sie weiß natürlich nicht, dass David schon lange seinen eigenen Schlüssel hat, für die Tage, an denen ich gar nicht zu Hause bin.
Nach dem Essen hat sich Oma hingelegt, und David spielt Computer. Bald sitze ich wieder in meiner Blase, abgekapselt von der Welt. Nur noch virtuelle Kontakte, und beschäftige mich mit der unwichtigsten Sache der Welt, mit dem größten Luxus seit Menschengedenken: mit Literatur. Eigentlich bin ich eher der Meinung, es sei ein Grundbedürfnis. Was meine Nachbarn, zwei Architekten, natürlich nicht verstehen. So ein Kunstwerk ist ein Drehbuch wieder nicht. Obwohl dieses eine besonders sensible Geschichte ist. Ein road movie mit halbwüchsigen Waisenkindern aus verschiedenen Ländern, die nach einer großen Katastrophe durch ein unbekanntes Land fliehen. Ihre Sprache ist ein Jargon, den sie fließend sprechen und verstehen, da sie schon Jahre in einem Lager verbracht haben. Broken English gemischt mit ihren jeweiligen Muttersprachen und Zitaten aus Fernsehserien und Liedertexten. Ich gehe meine fünfzig Seiten durch und markiere die Stellen, die wir abstimmen müssen: vor allem Realien, ein Fahrzeug, ein paar Kleidungsstücke, ein Kassettenrekorder…
Eine Stunde später – ich telefonieren schon mit Berlin – kommt mein Mann nach Hause. Er kommt ins Arbeitszimmer mich grüßen. Mit Gesten frage ich ihn, was die Oma unten macht. Sie sitzt und strickt. Ich gehe mich ein wenig mit ihr unterhalten. Fein. Ich vertiefe mich wieder in die Arbeit. Und in das Gespräch. Am Donnerstag ist Abgabetermin…
16 Uhr 10, ich telefoniere schon seit vierzig Minuten mit Berlin. Wir sind fast durch. Das Festnetztelefon läutet. Drei Mal. Offensichtlich ist der Anruf für mich. Ich höre Schritte in der Treppe und eine männliche Stimme hinter mir ins Schnurlostelefon sagen: Die Übersetzerin spricht gerade am anderen Telefon … selbstverständlich kann sie das machen … haben Sie ihre Mail-Adresse? Schicken sie ihr die Dokumente… Ich kann nicht für sie sprechen, aber ich glaube schon, dass sie Kapazitäten frei hat… Ich schaue ihn mit großen Augen an. Er grinst schelmisch, während meine Berliner Gesprächspartnerin weiterredet: – fuck yourself! … – Pardon? Qu’est-ce que tu dis? – Qu’est-ce que tu mets pour fuck yourself! ils n’arrêtent pas de le dire. Als Antwort ertönt in den Kopfhörern eine einkommende Mailnachricht. Am Betreff Umhängung sehe ich sofort, dass es sich um Museumstexte handelt. Der Anruf von vorhin. Ich öffne die Nachricht und versuche, sie zu lesen, verliere aber den Faden des Gesprächs mit Berlin. – Qu’est-ce que tu en penses?, fragt sie mich jetzt. Wenn ich nur wüsste, wovon sie redet … ach ja, da war doch was mit ‘fucking’. – Qu’est-ce que tu mets pour ‘fuck yourself’! – Connard. J’ai mis connard. Drei Word-Dokumente von je über 400 KB sind angehängt. Die Anfrage ist bis Freitag. Es ist nur machbar, wenn ich heute schon anfange. Und vielleicht bis Montag verhandle. Vom jugendlichen Slang zu den barocken Kleinbronzen und Elfenbeinreliefs ist ein ziemlicher Spagat. Also Berlin abschließen. Mailbox schließen. Unten die Situation melden. Abendessen delegieren. Digitale Wörterbücher öffnen. Wörterbuch der Kunst und Encyclopédie de l’art aus dem Regal holen. Kalten Tee einschenken. Abkapseln. Schwarzes Loch…
19 Uhr 34. Wie von der Unterwelt ertönt vom Erdgeschoss eine vertraute Stimme, die meine Seifenblase plötzlich zum Zerplatzen bringt: Das Essen ist fertig!
20 Uhr 15. Wir sitzen noch zu Tisch mit der Oma. David hat das Abendessen runtergeschluckt und den Tisch längst wieder verlassen. Er duscht. Oder liest Micky Mouse. Oder spielt wieder Computer. Mir ist alles egal. Was kümmert mich die Erziehung eines Halbwüchsigen, der ohnehin schon längst seinen eigenen Weg geht. Die Rotweinflasche ist fast leer. Ich fühle mich ziemlich ausgelaugt, aber ich habe eigentlich keinen Grund, mich zu beklagen. Ich habe mit Überflüssigem Geld verdient, ohne das Haus zu verlassen, während sich andere um das Notwendigste gekümmert haben. Und doch fühle ich mich ziemlich geleert, genervt und ausgepowert. Ich ertappe mich bei dem Wunschgedanken, einen Arbeitstag ganz ohne Verpflichtungen zu verbringen. Und der Wein, musste der unbedingt sein? Jetzt kann ich nicht mehr arbeiten. I han an rausch! Sagt man bei ihr z’haus. Ich ärgere mich über diese unnötigen Streitigkeiten, diese Genauigkeit, diese Perfektion, die mich stressen.
Und in dem Moment sagt die Oma mit einem entzückenden Lächeln: Maj, es is so schen ruhig bei eich!
In Erinnerung an Frieda Herlt [24. 3. 1914 – 14. 9. 2011]