Sie weiß noch, sagt sie. Die Kindheit. Jedes Mal wird sie an die Kindheit erinnert. Jedes Mal, wenn sie ein Paket geliefert bekommt, seit sie da ist, die Krankheit. Sie sagt es dem Jungen mit den schwarzen Haaren. Den schwarzen Locken. Es ist die Erinnerung an die Pakete ihrer Kindheit, im Mädchen-Internat, damals, in den fünfziger Jahren. Zuerst muss sie in ein Halbinternat, im neunzehnten Wiener Bezirk. Bei den Schwestern vom armen Kinde Jesu. Das versteht der Junge nicht. Mit zehn dann ins richtige Internat, es heißt „Bundeserziehungsanstalt“. Sie darf nur alle zwei Wochen nach Hause. Deswegen schickt der Vater Essenspakete, die sie in ihrem Kasten hinter der Wäsche versteckt. Kekse und Schokolade, die sie nachts mit den Freundinnen teilt. Bei der Kastenkontrolle wird alles ausgeräumt, herausgeschmissen, das Essen wird von den Schwestern einkassiert. In der Unterstufe fürchten sich die Mädchen auch vor den Großen aus der Oberstufe. Sie werden tyrannisiert.
Es war in der ersten Klasse geschehen. Als sie sechseinhalb war. Die Mutter war gestorben. Die Mutter, die geliebte Mutter. Sie erzählt dem Jungen, dass der Vater sie einmal zu Fasching als Teufel verkleidet. Sie schreibt es in einem Schulaufsatz. Die Schwestern, die Nonnen, finden das nicht lustig. Als Kommentar schreiben sie nur „sehr traurig“.
Dem Jungen erzählt sie noch: Der Vater ist Kunstmaler und Werbegrafiker. Damals. Zeichnet österreichische Geschichte. Auftragswerke. Nicht signiert. Vor dem Krieg noch, Ständestaat, Dollfuß-Plakate, Ermordung des Bundeskanzlers, Porträt, dann Totenmaske. „Österreich über alles“. Sie spricht „Austrofaschismus“ und „Vaterländische Front“. Affiche mit Kurt Schuschnigg für eine Volksbefragung im März 1938. Dann aber Einmarsch der deutschen Truppen. Anschluss. Deportation. Für Schuschnigg. Nicht den Vater. Dachau, dann Sachsenhausen, aber als „Schutzhäftling“.
Der Junge aus Afghanistan versteht das alles nicht.
Sie sagt: „Das musst du nicht verstehen“. Nur dass der Vater auch zur Wehrmacht muss. Zu der deutschen Wehrmacht. Kriegseinsatz. Trotz Heirat und Aufträge. Sowjetische Gefangenschaft. Nach dem Krieg, noch zwei Jahre. Er malt Porträts und wird deswegen gut behandelt. Bei einer Überführung von Litauen nach Schweden wird die Fähre bombardiert. Viele Tote. Leichen im Wasser, ertrunken und verbrannt. Der Papa kommt ins Spital. Zeichnet weiter Porträts. Von Kranken und von Pflegern. Von Iduna und Nils. Sie zeigt dem Jungen die Porträts von Nils und Iduna auf ihrem Handy. Sie sagt: „Nach der Matura habe ich sie besucht.“ Sie fügt hinzu: „Nils Käloff ist damals der oberste Richter Schwedens, er hat den Papa zu sich genommen.“ Deswegen das Porträt, in Öl. Die Freundschaft ist geblieben. Nach dem Krieg schicken Nils und Iduna Lebensmittel nach Österreich. Für das junge Paar aus Wien und ihr kleines Mädchen. Als die Mutter stirbt, will Iduna das Kind adoptieren. Der Vater will das Mädchen aber nicht verlieren. Die kleine Katharina bleibt bei ihm. Der Vater bekommt wieder Aufträge. Viele Werbeplakate. Für politische Parteien. Darauf schreibt er in schöner Schrift „Zweimal befreit und doch nicht frei“. Für den österreichischen Tourismus sogar auf schwedisch und auf englisch. Fremdenverkehrswerbung heißt damals nur Verkehrswerbung. Nach dem Abzug der schwarzen Ami-Soldaten gab es auch keine Fremden mehr. Die Menschen waren alle gleich. Wie vor dem Krieg. „Frisch-fromm-fröhlich-freie“ Mädchen und stramme Burschen beim Schifahren, Wandern oder auf Sommerfrische. Junge Paare, blonde Kinder in knallbunter Landschaft. Österreich, „Land der Berge, Land am Strome“. Der Papa pinselt Werbebotschaften auf Hausmauern, für die Straßenbahnwägen und für von innen beleuchtbare Haltestellensäulen.
Wiederaufbau. Wirtschaftswunder.
Es geht aufwärts.
Zeugnisse einer Stadtgeschichte.
Blick zurück in eine andere Zeit.
Semperit-Reifen und Montfort-Wäsche.
Rhomberg-Mode: „für Haus, Sport und Tanz“, „Dirndl-Stoffe für jung und alt“, „Echtfärbige Gartenkleider“.
Kotányi-Gewürze und Anker-Brot.
Clio-Brauselimo und ÖMV.
Teebutter und Saftgulasch.
Damals werben drei kleine rote Teufel für Viktorin Öfen; damals ist das Backen mit Haas leicht gemacht, und Elastisana-Wollhosen sind ein guter Griff; damals ist die Schmoll-Pasta ein Friedensprodukt, das neue Waschverfahren Persil ein selbsttätiges Waschmittel, und die Hirschseife wäscht strahlend weiß.
Damals.
„Vielgeliebtes Österreich,
arbeitsfroh und hoffnungsreich.“
Inzwischen ist das Haus in der Nußdorfer Straße mit der Kotányi-Werbung abgerissen worden. Inzwischen ist auch er gestorben. Der geliebte Vater. Katharina vermachte den gesamten Nachlass der Nationalbibliothek.
Aber damals, in den fünfziger Jahren, kann der Vater für sich und sein Kind aufkommen. Sechseinhalb. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter. Das Mädchen sitzt unter dem Schreibtisch des Vaters und zeichnet. Bei großen Flächen darf es am Wochenende die Werbungen des Vaters manchmal ausmalen. Der Vater kocht für sie Grießbrei und Marillenknödel. Nockerl darf das Mädchen ins heiße Wasser werfen. Am Wochenende bäckt der Vater Hendel. Er bastelt für sie Faschingskostüme. Spielt für sie Mundharmonika. Geht mit ihr Schifahren und Steine klatschen an die Donau. Er spielt mit ihr Verstecken und Geist. Wenn sie krank ist, erfindet er Geschichten vom Zippe-Zappe-Zwerg, jeden Tag eine neue. Er baut Landschaften und lässt all ihre Tiere erscheinen. Er zeichnet ihr junges Gesicht mit Kohle. Sie fühlt sich geliebt und geborgen.
Sie sitzen im dunstigen Licht des Sommers. In der Abendsonne. Die Hitze ist groß. Kein Wind über dem Garten. Die Katze schnurrt, die Rosen duften. Die Kohlezeichnung ist noch da. In der schwarzen Vitrine; mit dem Messingschild seines Ateliers mit dem Namen August Schmid und der Visitenkarte mit der Aufschrift Künstlerische Reklame und Werbegraphik, als er selbstständig war; mit der Malerpalette und der Omega-Uhr, der Mundharmonika und der Klappkamera.
Vom Wohnzimmer kommt eine sanfte Musik, Klänge einer Gitarre, Beyond the Missouri Sky, wie damals, als ihr Mann noch lebte, an den Sommerabenden. Darum fällt es ihr jetzt so leicht, über ihn zu sprechen, weil der Junge mit den schwarzen Augen diesen Schmerz auch kennt. Er hat jetzt die Eltern verloren.
So redet sie weiter. In der stickigen Hitze des Abends sagt sie es ihm, das Unsagbare. Ihr Mann, tot. Innerhalb ein paar Stunden. Das Herz hat versagt. Alles ist an diesem Tag, mit diesem Anruf, für sie zu Ende gegangen. Auf diesem Segelboot, mitten in der Adria. Diesmal war sie nicht dabei. Er ist nicht mehr zurückgekommen. In ihren Garten. Und er war nicht mehr da. Es gab keine Reisen mehr und keine Jahreszeiten. Noch hört sie manchmal sein Lachen, seine Stimme, wenn er sie zum Essen rief, wenn er von Reisen erzählte, von Jazz-Konzerten schwärmte. Sie sagt: „Und er kochte so gerne. Du hättest ihm gefallen. Er hätte dir viel beigebracht.“ Auf dem Handy zeigt sie dem Jungen Fotos von einer Zeichnung Egon Schieles, die ihr Mann geerbt hatte. Das ist alles, was von ihm übrig ist. Jetzt ihre Geldeinlage. Für den Fall, dass. Dem Jungen zeigt sie auch Fotos von dem Mann. Ein roter Vollbart mit einem Lächeln, am Ruder eines Segelschiffes. Sie sagt: „Ach! Was sind wir jung gewesen!“ Der Junge aus Afghanistan sagt, er will keinen Bart tragen, wie alle Moslem-Brüder, und wie sein großer Bruder, der jetzt in Belgien lebt. Sie findet, ein Bart würde ihm gar nicht passen, sein Gesicht sei noch das eines Kindes. Sie erzählt weiter vom Mann, Max, ihrer Jugendliebe. Und vom Unaussprechlichen: noch nach Jahren und Tagen, der Schmerz der Trennung. Der tote Körper unten am Friedhof. Unter der Föhre. Rote Rosen am Grab. Und den Spruch Bertold Brechts, eingraviert in den Stein. Sie war nicht dabei. Man rief sie an und sagte ihr nur, dass er dort gestorben sei. Auf hoher See, auf diesem Schiff.
Lange hatte der Junge mit den schwarzen Augen nicht sprechen können. Lange war er, ohne zu zeigen, dass er Kummer hatte. Lange wusste er die Wörter nicht. In ihrer Sprache. Am Anfang konnte er nur seine Sprache. Paschto. Auch ein wenig Dari. Sie weiß nicht viel von seiner Kindheit. Sie weiß nur, dass seine Namen Licht und Reinheit bedeuten und zwei der neunundneunzig Namen Allahs sind. Und dass es jetzt nicht mehr wichtig ist für ihn.
An diesem Abend also fängt er an zu erzählen. An diesem Abend, im Sommer um halb elf, sein Unaussprechliches: den Schmerz der Trennung, unerträglich, seine Mutter, seine geliebte Mutter, und jetzt ihr Herz versagt, aufgegeben. Verzweiflung und Einsamkeit. Die Mutter habe kein Gesicht mehr. Auch der kleine Bruder, die kleine Schwester nicht mehr. Der tote Körper der Mutter. Die Nachricht, dass sie dort gestorben sei. Im Iran. Und dann der Vater. Tot. Die kleine Schwester und der kleine Bruder jetzt ganz allein beim Onkel. Sechs Jahre nicht gesehen. Unfassbar. Und er, der Junge, der Ungläubige, noch am Leben. Bilder kreisen. Bilder aus der Kindheit. Er weiß nicht, wann er geboren wurde. Auch nicht im Shamsi-Kalender. Er könne ohnehin nicht zwischen den Kalendern umrechnen. Das Datum im Pass habe ein Dolmetscher einmal protokolliert. Bei dem ersten Verfahren wusste er auch nicht genau, wie alt er war. Er sagte, er sei etwa siebzehn. Geschätzt. Und dann stand es auf der Asylkarte. Und jetzt im Reisepass. In diesem „Reisepass der Republik Österreich, der für alle Staaten der Welt ausgenommen Afghanistan gilt“.
Vieles weiß er nicht mehr. Übrig ist nur die Erinnerung an den Namen Tagab, den Ortsnamen, den Fluss. Heimatdorf der Kindheit. Lehmhäuser in Erdfarbe. Bäume, Felder, Oase. Der Vater besitzt eine Parzelle. Der Boden saftig grün. Die Frauen legen die Wäsche zum Trocknen auf die Dächer. Und abends steigt Rauch auf von den Feuerstellen.
Die Provinz heißt Kâpîssâ. Das Kâ hinten im Gaumen, das helle î im Namen. Der Name gefällt ihr. Sie sagt zu ihm: „Kâpîssâ, das ist dein Name.“ Die Zartheit des Namens. Wie sein Name, Noor, das Licht. „Du darfst den Namen nicht vergessen.“ Er sagt, er wird gar nichts vergessen. Die fruchtbare Erde, die hohen Gebirge, höher als hier, in Österreich. Die Erde rot. Den gelben Himmel über der Stadt. Marmorstaub. Sand aus der Wüste. Das Wasser auch, unaufhaltsam. Mit sich Schlamm vom Gebirge. Den Fluss so groß, so wild. Und den Duft von Gewürzen und gebratenem Fleisch. Die Männer sitzen im Schatten der Häuser und trinken Tee. Im goldenen Abendlicht.
Eines Tages, lange vor seiner Geburt, beginnen die Verfolgung, die Schrecken, die Zerstörung. Der Junge sagt: „Sie kennen nur Zerstörung“. Die Taliban haben Fernsehverbot ausgesprochen. Sie verbannen die Frauen. Töten Kinder und Alte. Sie bombardieren aus der Luft, auf den Straßen, alles wollen sie zerstören. Wieder und wieder, die Schreie der Menschen, die Leichen der Kinder, die Gesichter der Frauen mit Säure verätzt. Ja, sie töten Familien, sie kommen in der Nacht, „Razzia“, ein arabisches Wort, und holen die Leute, wenn sie für die Regierung arbeiten, wenn sie nicht gläubig sind. „Ich will nicht Krieg für mein Land. Ich bin ein echter Afghane. Ich bin Paschtune.“
Sie sagt: „Wie ein gelber Stern. So hat es auch damals bei uns angefangen. Die Juden. Die Verfolgung. Der ganze Schmerz der Welt. Nie endende Schreie, unendliches Leid. Diaspora.“
Er sagt, er habe es gesehen, die verstümmelten Körper, bedeckt mit Asche, in Asche getaucht, den Ort des Todes. „Alles habe ich gesehen. Alles.“, sagt er. Der Richter habe ihm gesagt, er solle freiwillig ausreisen. Nach Afghanistan zurückkehren. Eine Rückkehrhilfe wolle er ihm auch geben. „In Afghanistan ist Krieg. In Kabul gibt es jeden Tag Selbstmordanschläge. Kein Mensch reist ein Jahr zu Fuß und riskiert sein Leben, wenn er keinen Grund hat“, habe er dem Richter gesagt. Also dem Dolmetscher, und dieser habe übersetzt. Nicht nach Kabul wollte ihn die Behörde schicken, nach Mazar-e Sharif. „In dieser Stadt gibt es zu wenig Wasser und zu wenig Essen für alle. Oft ist Dürre, die Erde ist ganz hart und kann keine Früchte geben.“ Das alles habe er dem Richter gesagt. Und dass er die Stadt nicht kenne. Und niemanden dort kenne. „Wovon soll ich leben? Wo soll ich schlafen? Auf der Straße? Das kann ich hier auch. Ich habe ein Recht auf Leben, ein Recht auf Verbot von Folter.“ Die Sätze hat er auch schon gelernt.
Deswegen musste er weg. Aufbruch. Zu Fuß. Sechs Jahre ist es nun her. Eines Tages kommen die Taliban ins Haus. Er ist vierzehn. Ja, er muss vierzehn gewesen sein. Fünfzehn vielleicht. Davor war er vier Jahre in die Schule gegangen. Länger nicht, weil die Taliban sagten, das Lernen mache nur Ungläubige. Man solle den Islam lernen, nicht dieses ungläubige Wissen. Die Schule war unter einem Baum, im Dorf Achunkhel. Zwanzig Minuten zu Fuß von seinem Heimatdorf. Die Schule hat immer im Hamal begonnen und neun Monate gedauert. Dann gab es drei Monate Ferien. Es war in den Sommerferien. Er wohnte da mit seinem Vater, seiner Mutter Sima, dem kleinen Bruder, Baset, damals sieben, und der kleinen Schwester, Mazalifa. Der ältere Bruder wohnte in Uruzgan und arbeitete für die Regierung. Als Soldat. Der Bruder wollte zur Armee, weil er seinem Land dienen wollte. War in Kabul ausgebildet worden. „Ich weiß nicht, wie lange diese Ausbildung dauerte. Ich war ein Kind damals“, habe er dem Richter gesagt. Der große Bruder hatte an Gefechten als Frontkämpfer teilgenommen. Seine Aufgabe war es, Distrikte von den Taliban zu befreien. Er und seine Kameraden haben das gemacht. Mehr wisse er nicht, nur das, was der Bruder erzählt hatte. Das Haus der Eltern war ein kleines Haus mit einer hohen Lehmmauer herum. Sie sind also gekommen, eines Tages, in den Sommerferien. Er war oben, im ersten Stock, mit der Mutter. Unten kam der Vater gerade von seinem Feld. Er ist immer nach dem Morgengebet um vier in der Früh auf sein Feld arbeiten gegangen. Zu siebt waren sie. Vermummte Kämpfer. Sie sagten dem Vater, die zwei großen Söhne seien alt genug, um für sie zu arbeiten, mit ihnen in den Dschihad zu ziehen. „Gefahr der Zwangsrekrutierung“ heißt es in den Protokollen. Sie packten den Vater, zerrten ihn in ein Auto. Mitgenommen. Dort haben sie ihn verprügelt, seinen Kopf unter Wasser getaucht. Am nächsten Tag haben sie ihn nach Hause gehen lassen. Drei Tage später seien sie wieder gekommen. Aber die zwei Brüder hatten sich versteckt. In derselben Nacht sind sie ausgereist. Es war der Beginn des Winters. Und die Reise dauerte lange.
Im Iran hatte der Vater einen Cousin, der einen Schlepper kannte. „Ich weiß nicht, wie er heißt und was die Reise gekostet hat. Mein Bruder hat das gemacht. Aber ich glaube, eins Komma sieben Millionen Toman pro Person. Ich war jung.“ Die Reiseroute war lang. Er sei fast ein Jahr unterwegs gewesen. Viel zu Fuß. Über Pakistan zu dem Cousin nach Iran. Zuerst Kabul. Danach Nimroz. Da haben sie die iranische Grenze überquert. Im Iran waren sie lange zu Fuß unterwegs. Die Gruppe soll sich aber aufgelöst haben, weil die iranische Polizei hinter ihnen her gewesen sei. „Mein Bruder ist verloren gegangen. Ich bin mit den anderen weitergereist. Nachdem mein Bruder die Arbeit für die Regierung aufgeben musste, hatte er kein Handy mehr. Die Taliban haben ihm sein Handy weggenommen. Sie sagten, dass er sich diese ungläubigen Filme anschaut.“ Er habe bis vor kurzem nicht gewusst, wo der große Bruder ist. Dann weiter über die Türkei nach Griechenland. In einer Nacht wie dieser verlässt das Boot die türkische Küste. Und das Festland verschwindet. Unter dem grenzenlosen Himmel das Meer, nichts als das Meer, das unendliche Meer, die Wellen wie Berge, keine Küste in Sicht. Kein Land am Horizont. Verzweiflung. Während der Überquerung fällt ein junger Mann ins Wasser. Treibt im Meer. Verloren in der Nacht. Ertrunken. In Athen habe der Junge sechs Monate verbracht. Auf der Straße geschlafen. „Dann habe ich es geschafft, über Mazedonien und Serbien nach Ungarn zu kommen.“ In diesen Ländern, in dieser Reise gab es keine Jahreszeiten mehr. Die Hitze und die Kälte. Sommerregen, Wintereis. Schlaflose Nächte. Noch eine Nacht, noch ein Tag. Noch eine Straße. Und immer dieses Warten. „Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Reise gedauert hat. Aber mein Pass ist da gestohlen worden. In Ungarn. Meine Identitätskarte, mein afghanisches Tazkira, die in Tagab ausgestellt war. In Ungarn gestohlen oder verloren. Ich habe es dem Richter auch gesagt.“
Einmal sei er dann weiter gegangen, zu Fuß durch ein Waldstück, er glaubt, er sei plötzlich schon in Österreich gewesen. Er habe in einem Dorf gefragt, jemand habe gesagt, er solle sich in den Zug setzen, und so sei er nach Wien gekommen.
Weiter sagt er: „Nur auf dem Papier bin ich Moslem, sunnitischer Moslem. Aber es bedeutet nichts mehr. Ich bete nicht, schon lange nicht mehr, gehe nicht in die Moschee und faste nicht im Ramadan. Ich bin „vom islamischen Glauben abgefallen“, so steht es in meinem Antrag auf internationalen Schutz. So nennen sie das. Die Behörde und auch die Taliban. Für sie habe ich mit dem Feind kollaboriert, ich bin harām, mein Leben ist harām. Der Islam ist Staatsreligion. Die Scharia ist das Gesetz. Aber sie sind Barbaren. Die wissen nichts, sind ungebildet. Sie schätzen ein Menschenleben nicht. Und die Taliban haben überall ihre Leute, die kommen und prügeln dich deswegen. Sie steinigen dich. Sie trennen deinen Kopf mit Schnürsenkel ab. Sie werfen Säure in das Gesicht der Frauen. Wenn ich zurückkehre, sagen sie, ich muss sterben. Ich soll Todesstrafe bekommen. Ich kann nicht zurück. Ich habe Deutsch gelernt und die Wertekurse bestanden. Ich bin jetzt „unafghanisch“, ich lebe europäisch. Und du, du bist wie eine Familie. Wie eine Mutter. Bei dir ist mein Zuhause. Und ich habe hier viele Freunde. Ich kenne Österreich. Die Sehenswürdigkeiten. Die Spezialitäten und sogar die Weinkarte. Ich kann nicht afghanisch kochen. Ich kann nur Wiener Schnitzel und Petersilkartoffeln, Krenobers und Spargelcremesuppe. Das habe ich alles in der Tourismusschule gelernt. Und ich will Kellner werden. Ich kann viele Cocktails. Ich habe sie alle gekostet. Ein Moslem trinkt keinen Alkohol. Ich will hierbleiben und Kellner werden. Ich kann ein guter Kellner werden. Ich will Kellner werden“, sagt er wie ein Mantra. „Ich bin nicht mehr illegal.“
Das ist alles. Was er sagen kann.
Sie schaut ihn an. Sie sieht sein Gesicht: ein Kind fast. Während er das sagte, hatte er die Augen gesenkt. Die schwarzen Augen. Und plötzlich erkennt sie das Gefühl, das er ihr zugefügt hat, die untröstliche Zärtlichkeit. Beinahe Verzückung. Er hatte sie Mutter genannt. Sie denkt, er sei wie ein Kind für sie. Sie, die keine eigenen Kinder wollte. Dass sie ihn nie im Stich lassen wird. Es sei jetzt alles gut, die Verluste seien gedeckt.
Der Garten ist kühler geworden, eine Spur nur. Friedlich. Das milchige Licht des Abends ist gewichen. Langsam bricht Dunkelheit ein. Es ist halb elf in dieser Sommernacht. In der Stille der Nacht sind alle Augen schwarz. Der Junge sitzt barfuß auf den heißen Steinen. Ein Teeglas in der Hand. Die Katze ist schon längst eingeschlafen, eingehüllt von der sanften Musik.
Der Garten atmet, pocht. Die Schneerosen längst verblüht, die Blätter des Feigenbaums duften. Schwere Süße. Die Grillen zirpen in den hohen Gräsern. Ein Moment des Friedens. Ein Ort wie aus der Welt. Ein Zufluchtsort, ein Damm. Gegen die Welt der Kriege.
Sie sehen einander an.
„Was wird aus mir werden? Manchmal habe ich Angst“, sagt er zu ihr. Und fragt mit einem leichten Lächeln: „Wirst du immer für mich da sein?“
Und sie antwortet: „Natürlich, ich verspreche es dir. Und wenn ich kein Geld mehr habe, kann ich noch immer die Zeichnung verkaufen.“ Dann sagt der Junge ein Wort, das er neu gelernt hat: „Ich bin dankbar“. Er schaut sie an, seine Augen glänzen im Kerzenlicht, und wiederholt den Satz vollständig und grammatikalisch korrekt: „Ich bin dir sehr dankbar.“ Und fügt ihren Vornamen hinzu.