Das neue Opium des Volkes

(ein Slamtext über ein sogenanntes Urlaubsparadies, vorgetragen anläßlich des C3-Library Slams « Bon voyage!? » am 24. Oktober 2017, 1. Runde)

 Ein Strand in Goa. Sonnenuntergang, Meeresrauschen und Möwenschreie. Eine leichte Brise weht in den Palmen und in meinen gewellten Haaren. Inbegriff des Paradieses. Mein Fußabdruck … im nassen Sand hinterlässt mystische Symbole: Dharmachakra und flammende Sterne.

Goa. Hier glühen seit vierzig Jahren die Aussteigerherzen; verlorene Seelen, die wie römische Lichter die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen. Hippies in ausgewaschenen Klamotten, mit Tattoos, Piercings und Dreadlocks.
Hype and cool.
High and smooth.
Bei Tag gibt’s Yoga, Tantra, New Age Music, Ayurveda.

Abends wird getrommelt, Hand gelesen, jongliert und tarockiert, du rauchst Kingfischer Bier oder trinkst einen Joint, oder umgekehrt, am Ende singst du Mantras: Om mani padme hum!

Horizonterweiterung.

Eine Engländerin will ein Buch über die Sonnenuntergänge auf der ganzen Welt schreiben. So different! Sonst kauft sie Stoffe und Schmuck für ihre Boutique in London. Ihr Fußabdruck?
London-Goa hin-zurück über Mumbai und Dubai vier Mal im Jahr … 10 Tonnen Co2 … 10 Tonnen, das sind 5 Autos oder 4 Elefanten.

Eine junge Sirene tanzt in den Wellen eine Bollywood-Choreographie; auf einer Düne liegt ein totes Schwein im Sand; daneben macht ein kahlköpfiger Mann Tai-Chi. Sein Yin und sein Yang in voller Harmonie. Frische leuchtende Kraft strömt durch seinen Körper, er teilt die Wolken mit den schwingenden Armen, tanzt mit dem Regenbogen, rudert in der Mitte des Sees. Vorwärtstreibende Wellen…
Und diese Ruhe…

Please Madam, have a look, very good price! Junge Frauen in Saris schleppen Bündel von Stoffen: What’s your name? Have a daughter?
Ein kleiner Bub mit vorstehenden Zähnen versucht Ketten los zu werden: Please Ma’m, malachite, turquoise, sandalwood, shark tooth
Ein Eisverkäufer fährt den Strand mit dem Fahrrad auf und ab und klingelt unentwegt mit der rostigen Glocke.
Dann kommt die Kokosnussfrau im Schatten ihres Korbes…
Herst Schorschi, glaubt’s die san bi-o?

Please Madam… jeden Tag kommen sie, dieselben Verkäuferinnen, Lalita, Gita, Sita und Anita, du kennst sie alle. Verlegene Touristen verstecken sich hinter ihren Büchern, Jonathan Franzen, Paolo Coelho, Daniel Kehlmann.
Dein Kindle erweist sich als unbrauchbar.
Hello Madam, how are you today? Remember me? Have a look. You promised. Der Strand als Konsumtempel. Rosa, schwarze, violette Tücher. Die Ränder ungesäumt, die Farbe unfixiert. Dieselben Fetzen wie vor vierzig Jahren, nach Staub riechend. Dieselben Fetzen… Nachhaltig.
Please, have a look! Today is not a good day. Too much Russians on the beach.

Diese Russen.

Die Russen können nicht einmal Englisch, die Russen sind hart im Geschäft, die Russen lesen keine Bücher und kaufen keine Haifischzähne, sie lernen Kitesurfen, sie tragen Goldketten und Designer-Sonnenbrillen. Hören Techno, trinken Rum und Wodka. Mojito, Cuba Libre, Bloody Mary, Stormy Night. Dann fahren sie betrunken ihre halbnackten Blonden in Pareo und Flipflops auf schweren Motorrädern durch die indischen Dörfer.

Aber bald…
bald wird ein Neues Zeitalter kommen: denn die Sonne wird in den Wassermann wandern,
Monsunwinde werden aufsteigen,
schwarze Wolken werden den Himmel verdüstern…
Und wenn der Regen kommt, sind die Russen bestimmt weg.

[Goa, Februar 2012 – Klosterneuburg, Oktober 2017]