– Di-ren! Di-ren!
Paul marschiert mit gehobener Faust und skandiert mit der Menge:
– Di-ren! Di-ren!
Ich eifere meinem kleinen Bruder nach. Sara sieht mich verwundert an, ich nehme ihre Hand, hebe sie in die Luft, dann, leicht zeitverzögert, skandiert sie mit:
– Di-ren! Di-ren!
Wir marschieren die Sıraselviler Caddesi in Richtung Taksim-Platz, wo die gepanzerten Fahrzeuge den Zutritt zum Gezi-Park versperren. Die vorderen Reihen tragen Gasmasken und ein großes Transparent mit dem Spruch Boyun eğme, „beugt euch nicht“. Wir haben bloß Bandanatücher um den Hals, die wir im Fall einer Gasattacke um Nase und Mund hochziehen könnten. Menschen strömen von allen Seitengassen, Soğancı, Hocazade, Liva Sokağı, einzelne Demonstrierende verstecken ihr Gesicht hinter einer Taucherbrille oder einer Guy-Fawkes-Maske, manche halten Kartons mit politischen Slogans. Ich erkenne ein paar der humoristischen Sprüche, die ich auf Graffitiwänden fotografiert habe und die mir Paul erklärt hat: „Keine Sorge Mama, ich bin nur im Schlepptau“, Çapulcu oder Erdo-gone! Unentwegt fliegen Hubschrauber über unsere Köpfe, vermutlich dieselben, die abends Tränengas über die Gassen abwerfen. Aus einem tragbaren Gerät erschallen die ersten Takte des İstiklâl Marşı, der Nationalhymne, weiter hinten singt eine Gruppe Bella Ciao. Die Gesänge vermischen sich O bella, ciao! bella, ciao! bella, ciao, ciao, ciao … Korkma, sönmez bu şafaklarda … E questo è il fiore del partigiano, morto per la libertà! und gehen im Tumult der Trillerpfeifen und der Trommeln unter. Wir hören jetzt auch auf Deutsch und Französisch rufen und greifen es auf:
– Résistance! Résistance! Widerstand!
Wir kommen der Straßensperre der Hundertschaft immer näher. Die Lage ist angespannt, aber die Stimmung fröhlich. Beim Vorbeigehen am Haupteingang des deutschen Krankenhauses sehen wir im Innenhof rauchendes und kaffeetrinkendes Personal, das uns unterstützende Rufe zuwirft. Einige begleiten uns durch Klopfen auf Kochtöpfen. Eine Krankenpflegerin reicht mir ihre schon ramponierte Kasserolle und ihren Holzlöffel. Ich übernehme das schnelle Schlagen im Rhythmus meines Skandierens:
– Ré-sis-tance! Ré-sis-tance! Wi-der-stand!
Paul scherzt:
– Kurs halten, auf die Hook!
– Résistance! Résistance!
Ich denke wieder an Michel Piccoli beim Lichtermeer in Wien vor zwanzig Jahren, an unsere Demo „für die Geburt eines neuen Österreich“, an seine Worte: „Wir sind nicht die Widerstandskämpfer der Vergangenheit … seien wir die Kämpfer der Zukunft. Résistance! Widerstand! Freiheit für alle!“
Wir sind jetzt oben am Ende der Straße angekommen, sehr nah an der Sperre am Eingang des Taksim-Platzes, können aber nicht mehr vorwärts. Und auch nicht zurück. Wir stehen eng aneinander, wie zusammengewachsen. Kämpfer und Kämpferinnen der Zukunft! Gaspatronen fliegen in einem hohen Zischen durch die Luft, fallen auf die Gehsteige und streuen Tränengas. Ein junger Mann versucht, ein Geschoss zu packen, um es in Richtung der beschirmten Sondertruppen zurückzuwerfen, verbrennt sich die Hand; einem von den Demo-Anführern, mit Handschuhen und Gasmaske ausgestattet, gelingt es. Durch ein Megafon ertönen weitere Parolen der Demonstrierenden, die von den Warnsignalen, den Gaspatronenschüssen und von den Hubschraubern überstimmt werden.
Ich fühle mich am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Die Sonne scheint. Istanbul zeigt sich für Touristen von seiner besten Seite. Und wir sind Teil einer gewaltigen Aktion der Solidarität. Es gibt mir das Gefühl, wieder zwanzig zu sein. Unbekümmert und hoffnungsfroh. Es ist ein wunderschöner Junitag des Jahres 2013. Wir wissen sehr wohl, dass wir den Gezi-Park vor Erdoğans Bauplänen nicht retten werden, aber der Einsatz ist es trotzdem wert. In mir kommen Erinnerungen an meine Jugend hoch, als ich zur Gitarrenbegleitung meinem Großvater die Chansons Le Déserteur von Boris Vian und Nuit et Brouillard von Jean Ferrat vorsang, als ich mit meinen Eltern gegen den Ausbau einer Militärbasis im Larzac oder für eine sozialistische Regierung demonstrierte, oder wie ich als Studentin in Toulouse gegen Rassismus auf die Straße ging, später gegen die Unireform des Ministers Devaquet.
Unsere Sprüche habe ich nicht vergessen:
Gardarèm lo Larzac!
Mitterand, président!
68 c’est trop vieux, 86 c’est mieux!
Devaquet va craquer!
Wir boykottierten die Ananasdosen aus Südafrika und die Datteln aus Jericho, schauten im TV die Konzerte von Band Aid und S.O.S. Racisme, kauften die Schallplatten der Restos du Cœur, sangen We are the World, Douce France und Un autre Monde und unterstützten die Studenten vom Tian’anmen-Platz mit Übersetzungen für Amnesty International.
Unser Demozug hat sich noch mehr verdichtet. Alles steht. Zwei Welten prallen aneinander: behelmten Polizisten in Erdoğans Sold und eine friedliche freiheitshungrige Menge. Es wirkt mittlerweile beängstigend. Trotzdem sind wir weiter euphorisch und glauben an der Sache. Paul sieht aus wie der kleine Gavroche auf dem Gemälde von Delacroix. Nur dass er nicht bewaffnet ist. Und fast dreißig! Ach Paul! Kleiner Bruder, was für einen Weg du zurückgelegt hast! Jetzt kann man wohl sagen, dass du dein eigenes Boot führst! Als du dich voriges Jahr beim Ministerium für diese Stelle am Sankt-Georgs-Kolleg in Istanbul beworben hast, habe ich auch gewusst, dass du damit nicht das feine Leben der Expats mit ihren Cocktails und After-Work-Whiskys anpeiltest, sondern deine Begabung als Vermittler nützen wolltest, ich weiß, dass du ein Mensch bist, der sein Leben lang, wie Gavroche, Minderheiten unterstützen und gegen Ungerechtigkeit kämpfen wird. Unsere Gesellschaft braucht einfach mehr Menschen wie dich!
– Diren! Résiste!
– Résistance! Widerstand!
Plötzlich fallen Schüsse, ein TOMA-Fahrzeug besprengt die Menge mit seinem säurehaltigen Wasserregen, und ein Kampfpanzer, „Skorpion“ genannt, setzt sich in Bewegung in unsere Richtung. Schreie, Getrampel, Gedränge.
– Run, run!, schreit jemand und packt uns an den Ärmeln.
– Yalla! Zurück!, brüllt Paul, zum Krankenhaus!
Uns ergreift die Panik. Wir trampeln, stocken, stolpern. Laufen. Zurück zum deutschen Krankenhaus. Ich habe Saras Hand verloren, meine Augen brennen, ich spüre das Tränengas in der Kehle, in der Nase, jemand hilft mir, ich weiß nicht wer, den Weg zum Innenhof zu finden, ich höre Paul sagen:
– Hier sind wir safe!
Jemand spült meine Augen mit einer Flüssigkeit aus einer kleinen Mineralwasserflasche und erklärt mir auf Englisch:
– It’s only milk and water.
Das Brennen lässt nach. Ich kann wieder sehen. Wir alle sitzen oder hocken auf dem Boden, es gibt verbrannte Hände, verätzte Augen, alle husten, keuschen, ersticken fast. Das Dröhnen der Sonderfahrzeuge wird immer lauter, Bilder aus Kriegsfilmen drängen sich auf, als plötzlich ein Panzer vor dem Haupteingang des Krankenhauses hält, seine Kanone auf uns richtet und eine Ladung Gas in den Innenhof hineinschießt. Mit letzter Kraft stürzen wir zum Seitenausgang und flüchten durch die Soğancı Sokağı bis zum Cihangir Platz, wo wir Zuflucht in einem Café finden.
Der Besitzer ist schon dabei, die Glasschiebetüren der Terrasse zu schließen. Er kündigt eine Runde Bier für alle an. Wir sind vielleicht fünfzig in diesem Glashaus. Manche sitzen direkt auf dem Boden, verschwitzt, aufgewühlt, andere liegen auf Tischen, ihre Augen und Atemwege werden von einer Ärztin versorgt. Blutdruck wird gemessen. Eine Platzwunde wird genäht. Aber schon wieder wird gelacht und gescherzt. Viele machen Selfies ihrer mit der schaumigen Augenspülung verschmierten Gesichter. Auch Sara und ich bekommen einen Lachanfall, als uns bewusst wird, welche Gefahren wir auf uns genommen haben. Kindsköpfe! Wir wischen uns das Gesicht mit unseren Bandanatüchern, wir haben Staub und Dreck überall, mein T-Shirt ist halb zerrissen, mein Holzlöffel besteht nur noch aus dem Griff, und ich habe den Kochtopf unterwegs verloren!
Im Hintergrund läuft Zaz, wie in allen Cafés und Bars Istanbuls in diesem Sommer, Je veux d’l’amour, d’la joie, de la bonne humeur, das kleine Café wird zu einem Babel der Freude und der Stimmen: Evet! Mashallah! Alles Gut! Et j’suis comme ça, papalapapapala! Every think okay? Tamam! Tout va bien! Dis donc, on a eu chaud! Die Gläser werden in die Höhe gehoben, und unisono wird auf die Gesundheit Erdoğans geprostet in Anspielung auf sein neues Gesetz gegen den Ausschank von Alkohol:
– Şerefine Tayyip! Şerefine!
Wir haben nicht mehr weit zur Wohnung meines Bruders. Wir müssen uns nur aufraffen. Wir werden alle drei duschen, die Fenster zum Bosporus hin weit öffnen, um die Abendbrise reinzulassen, Paul wird uns sicher einen erfrischenden Salat zaubern, und wir werden mit Rakı auf den Tag anstoßen und chillen – wie er sagt –, wartend auf einundzwanzig Uhr, wo wir wieder mit den Einwohnern der Stadt als Zeichen der Solidarität durch die Fenstergitter mit Löffeln auf Kochtöpfen zu klopfen beginnen werden.
Das Café hat sich ein wenig geleert. Jetzt läuft Manu Chao. Sara und ich singen mit: Perdido en el corazón de la grande Babylon, Eiswürfel klirren in den Rakı-Gläsern, me dicen „el clandestino“ por no llevar papel …
Paul schaut mich an, er hat Tränen in den Augen. Ich frage:
– Alles okay?
Und mein Brüderchen antwortet mit einem Lachen:
– Klar Deck überall!