Amanda Gorman, c’est moi !

Ich hätte gerne Dreadlocks oder so Zöpfe. Damit ich Toni Morisson ins Französische übersetzen darf. Oder Amanda Gorman. Meinen Sie, es würde reichen? Oder bin ich zu … alt? Oder müsste ich als literarische Übersetzerin ein alter weißer Mann sein, um Thomas Bernhard zu übersetzen, oder um Orhan Pamuk zu lesen? Comprendre Roudaki ou Hafez de Chiraz ? Lire Rûmî ou bien Omar Khayyām ? Comment peut-on sans être Persan ? Muss ich im Gefängnis gewesen sein, um Empathie für Asli Erdogan zu empfinden? Vergewaltigt worden sein, um Virginie Despentes zu verstehen? Wer ist dann in der Lage, Virginia Woolfs Orlando zu übersetzen?

Ich erhebe den Anspruch, über meinen Personenstand hinaus übersetzen und schreiben zu dürfen. Um mit Fiston Mwanza Mujila zu sprechen: „Mein Reisepass ist die Literatur“.

Denn … in meiner Jugend war ich schon Steppenwolf, Dorian Gray, Moby Dick,
Gustav von Aschenbach, mehr Goldmund als Narziß.
Unlängst war ich Charlie, Malala, Taslima,
Hausfrau in Filzpantoffeln, Stöckelschuhdomina,
A person of color, ja, a skinny Black girl,
habe mich sogar verwandelt in Angel Catbird.
Ich war Kampflesbe und Baby Queer.
Ich war schon Proust und Edouard Louis,
bin die deutsche Nina Bouraoui.
Ich war schon Ronnie und Rhonda,
sogar Shafia und Donia,
und auch Luan und Lydia.

Mitunter bin ich mir selbst so fremd, dass es keinen Unterschied macht,
ob ich über mich oder andere schreibe.
Und tief in mir fühle ich mich manchmal wie ein alter weißer Mann,
tief in mir bin ich oft lesbisch, schwul, jüdisch oder schwarz,
bin Superheld Iceman, Supermans Sohn und Catwoman.
Durch Hokuspokus, Simsalabim und Abracadabra,
En vérité, je vous le dis, Amanda Gorman, c’est moi !

Heute bin ich Ann Air.
Heute bin ich on air,
et comme Stromae je veux „lever mon verre
à ceux qui n’en ont pas”
de plume ni de voix.
Je veux lever ma voix,
Parce qu’aujourd’hui, tu vois,
Amanda Gorman, c’est moi !
Comprenne qui pourra.

Gebt mir eine Feder, die voll genug ist, und ich kann die Welt übersetzen.
Ich glaube, ich habe ein Schreib-Syndrom:
Ich möchte gerne für alle schreiben –
ich meine für die, die die Sprache nicht haben,
oder nur die native wie das Olivenöl.

Und über alles schreiben,
im Präsenz und im Singular,
im Plusquamperfekt, im Plural,
Für Tote und für Lebende,
Requiems, Memento mori,
für dich light, vegan und verträglich,
für dich vielleicht ganz schwer verdaulich.
Ich möchte schreiben für die vierte Wand und die gläserne Decke,
für die hintere Reihe und für dich, in der Ecke,
ja, du, ich könnte deine Echó sein,
dich von Fesseln befreien,
deine Verrenkungen heilen,
„Bein zu Bein, wie geleimt sollen sie sein“.

Denn die Feder soll stärker als das Schwert sein.
Oui,
la plume est plus forte que le glaive –
comme il avait raison, Césaire –
wahr, ein schreiender Mensch ist kein tanzender Bär.
Une femme qui crie n’est pas un ours qui danse,
une femme qui écrit est un homme qui pense
–   ses mots
et un être qui panse
–   les maux,
qu’elle parle pour elle ou qu’elle parle pour iel,
elle parle pour ceux qui n’ont pas voyagé,
qui n’ont jamais rêvé,
qui n’ont jamais osé.

Ich könnte eure Sappho sein,
eure Colette, eure Virginia,
oder noch eure Djuna
Barnes und eure Erika
Mann, und eure Yourcenar;
ou l’écrivaine amoureuse
                   et l’amante sauvage Annemarie Schwarzenbach.

Seid mein lyrisches Ideal, mein si­byl­li­nisches Idyll,
lasst euch besingen, konjugieren,
deklinieren, rezitieren,
sogar ganz kitschig deklamieren,
auf Deutsch oder lieber Französisch;
Lasst dies mein Fado, mein Blues sein,
mein Schwanenlied, mein Abgesang.

Seid doch mein Füllhorn der Gefühle,
meine Bleifeder, meine SchreibzeugInnen,
meine ewige Quelle und mein Ozitozin,
mein Antidot zur Melancholie,
meine Kornkammer der Inspiration.

Hiermit ist in den Stein gemeißelt und in Tinte gegossen,
auf Papier eingraviert, jetzt in den Raum gesprochen:
durch Hokuspokus und Abracadabra,
Amanda Gorman, c’est moi !