Geiseln

Auszug aus « Geiseln », deutsche Übersetzung des Romans Otages von Nina Bouraoui, Elster & Salis, 2021

Ich kenne keine Gewalt und habe nie Gewalt erfahren, keine Ohrfeigen, keine Schläge mit dem Gürtel, keine Be­schimpfungen, nichts. Selbst die Gewalt in uns, die wir auf den anderen, auf die anderen übertragen, selbst die ist mir fremd.
Das ist ein Glück, ein großes Glück. Wenigen von uns geht es so, das ist mir bewusst. Natürlich weiß ich von der Gewalt auf der Welt, aber sie geht mir nicht unter die Haut.
Ich habe meinen Schutzmantel, so bin ich nun mal: Ich erkenne das Böse. Ich lasse mich nicht vergiften. Ich habe mein Inneres zu einer Festung gemacht. Ich kenne jede Kammer, ich kenne jede Tür. Ich kann sie schließen, wenn ich sie schließen muss, öffnen, wenn ich sie öffnen muss. Das funktioniert gut.
Freude will erworben sein. Sie fällt nicht vom Himmel. Freude, das sind unsere Hände in der Erde, im Schlamm, im Lehm, dort können wir sie greifen und erfassen.
Ich habe diese Freude gesucht, wie besessen, doch wenn ich sie mal gefunden hatte, ist sie mir wie ein Vogel wieder entflogen. Ich habe mich damit abgefunden und weiter ge­macht, ohne mich allzu sehr zu beklagen.
Klagen belastet mich und die anderen. Es ist auch banal und kostet nur Zeit.
Meine Zeit ist begrenzt und kostbar. Ich fühle mich so oft getrieben, gehetzt. Manchmal würde ich lieber die Wol­ken am Himmel vorbeiziehen sehen oder auf dem Wald­boden liegen, mit geschlossenen Augen, das Feuer der Erde spüren.
Ich liebe die Natur. Ich glaube an sie, wie andere an Gott glauben. Es ist dieses Gefühl von Fülle, das Empfinden von Größe, jedes Mal dieses Staunen: das Geheimnis der Jahres­zeiten, die Tiefe der Ozeane, die Wucht der Gebirge, die Farbe des Sandes und des Schnees, der Duft der Blumen und der Moose im Wald, die unendliche Weite, die uns so klein er­ scheinen lässt.
Ich bin nie zusammengebrochen, niemals, auch nicht, als mein Mann vor einem Jahr gegangen ist. Ich habe standge­halten. Ich bin stark, Frauen sind stark, stärker als Männer, sie verinnerlichen das Leid. Für uns ist Leiden normal. Es ist Teil unserer Geschichte, unserer Geschichte als Frauen. Und es wird noch lange so sein. Ich sage nicht, es ist gut so, aber ich sage auch nicht, es ist schlecht. Es ist sogar von Vor­ teil: Wir haben keine Zeit, lange zu jammern. Und wenn wir keine Zeit haben, gehen wir zum Nächsten über. Erledigt. So stören wir niemanden.
Als mein Mann mich vor einem Jahr verlassen hat, habe ich geschwiegen, ich habe nicht geweint, habe nichts an mich herangelassen und nichts rausgelassen, wie bei der Gewalt war ich die Ruhe selbst.
Es kam wie aus dem Nichts, schließlich waren wir mehr als fünfundzwanzig Jahre zusammen. Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. All diese Jahre bestehen aus Ge­wohnheiten, auch aus Liebe, aber, seien wir ehrlich, vor allem aus Gewohnheiten, aus einer Reihe von Alltäglichkeiten. Es ist wie bei einem Band, das wir ausrollen und das sich unaufhörlich weiter entrollt, kein Ende in Sicht, und nur manchmal denken wir an dieses Ende, ohne wirklich daran zu glauben.