İstanbul’u dinliyorum,
gözlerim kapalı… [Orhan Veli]
[in Podium, Doppelheft 169/170, Thema: halbvoll halbleer, November 2013, Wien]
Istanbul, Donnerstag 10. März 2011, 10 Uhr 05.
Ich bin zum Brunchen um halb elf eingeladen und soll die simit mitbringen. Vier Stück Sesamkringel. Vor der Yeni Camii kosten sie nur 75 Kuruş, hier auf der großen Touristenmeile wahrscheinlich 1 Lira. Kaç para? lautet die Frage. Wie oft habe ich gefragt und die Antwort nicht verstanden! Zur Not kann man sich mit Gesten verständigen. Oder ich gebe dem simitçi 4 Lira und werde wohl sehen, ob er mir zurückgibt. Nach 7 Tagen Kurs – es entspricht immerhin schon 28 Stunden – kann ich die Zahlen noch immer nicht. Vokalharmonie und Agglutination sind kein Geheimnis mehr für mich. Aber die Zahlen… Ich versuche sie mir im Gehen einzuprägen. Schön im Rhythmus: bir, iki, üç… In der Sesamstraße stellt ein Graffiti eine schreiende Frau dar. So fühle ich mich manchmal nach zwei Stunden Hausübungen. Jeden Vormittag. Und vier Stunden Kurs am Nachmittag. Es sind sechs Stunden Türkisch am Tag. Und ich kann die Zahlen noch immer nicht. Trotz der heutigen Hausübung, Seite 36, Nummer 8: „Schauen Sie sich die Liste mit den Telefonnummern an; wen würden Sie anrufen, wenn Sie folgende Nummern wählen würden: beşyüzellidokuz kırküç seksenyedi“. Wenn ich es so geschrieben sehe, ist es kein Problem, aber beim Gemüsehändler oder im Bazar bin ich sofort als Touristin entlarvt. 666, die Zahl des Teufels steht jetzt an der Wand geschrieben, in großen schwarzen Ziffern. Auf Türkisch altı altı altı. Ich gehe am Wasserverkäufer vorbei, über dem Eingang steht Water World und die Telefonnummer 292 73 10. Schweißausbruch. Ich werde es nie schaffen. Dabei ist die Umstellung für mich, als Französin, nicht so schlimm wie für Deutschsprachige: zuerst die Zehnerstelle und dann die Einerstelle. Im Türkischen wie im Französischen. Achtzehn ist zehn acht, also on sekiz, wie dix-huit. Diese deutsche Eigenart bescherte mir übrigens vor gut zwanzig Jahren eine unvergessene Blamage: Ich saß im Café und wollte zum ersten Mal meine Rechnung „österreichisch“ bezahlen, das heißt den Betrag auf die nächsthöhere Summe aufrunden. „Zweiunddreißig Schilling“ sagte der Kellner, und ich, wie aus der Pistole geschossen „fünfundzwanzig“. Die Luft blieb stehen. Der ganze Tisch schaute mich verblüfft an. „Nein“, wiederholte der Kellner, „zwei–und–dreißig.“
Neben dem Seiteneingang des deutschen Krankenhauses ziert noch ein Graffiti die Wand: ein roter Peter Pan mit den Nummern P.4 140. Und genau 140 Schritte sind es auch durch das Krankenhaus, also gehen sich 14 Mal durchzählen von bir bis on aus. Ich habe aber auf Französisch mitgezählt. Nur um es zu wissen fürs nächste Mal. Auf der Straße fange ich nochmals von vorne an: bir, iki, üç, dört, beş, altı, yedi, sekiz, dokuz, on. Ich übe mit allem und überall: Telefonnummern vom Pizzadienst oder Wiener-Wald-Lieferanten (ja, Wiener Wald!), Autokennzeichen, Ortsschildern, Benzinpreisen. Am Taksim steht der Straßenhändler mit der Saftpresse: nar suyu, drei Lira – portakal suyu, eine Lira. Ein Display vor einer Bank gibt den Wechselkurs an: 1 € = 1,22 TRY – 1 CHF = 1,46 TRY – aber auch das Datum, die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit. Naturgemäß fällt mir dazu ein literarisches Zitat ein: „die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit“! Trotzdem erstaunlich: Ich hatte nie gemerkt, wie sehr Zahlen unser Leben bestimmen. Oder könnte es sein, dass die Türken Zahlen besonders mögen? Naturgemäß? Weil die Gebetszeiten so genau berechnet werden? Das Mittagsgebet, das gestern um 11.05 Uhr war, wird heute um 11.04 Uhr und morgen um 11.03 Uhr sein. Atatürk ist am 10. November 1938 um genau 9.05 Uhr gestorben. Das zu wissen ist notwendig, da jedes Jahr das ganze Land des Staatsgründers mit einer Schweigeminute gedenkt, in der der gesamte Verkehr zwar stehen bleibt, aber alle Hupen auf den Straßen und Sirenen auf dem Bosporus dröhnen. Historische Zahlen sind überhaupt eine gute Übung. 330: Byzanz wird Konstantinopel. 1923: Gründung der türkischen Republik. 1453? Die Zahl kennt jeder Türke, und wenn die Türkei Fußball gegen Griechenland spielt, werden Transparente mit dieser Zahl geschwenkt: das Jahr der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmet II. In Worten, der Zweite. Die Ordinalzahlen kann ich sowieso noch nicht. Kein Grund jedoch, mich von der 64 m hohen Bosporusbrücke oder vom 67 m hohen Galataturm zu werfen. Ich fange mit den Kardinalen an, und die muss ich üben, üben, üben. Als der Asteroid B 612 im Jahr 1909 von einem türkischen Astronomen entdeckt wurde… Nein, das ist eine andere Geschichte und hat schon wieder mit Literatur zu tun. Ich sehe schon den Simitverkäufer. Nur noch ein paar Schritte. Ein Mal kann ich noch üben. Bir, iki, üç, dört, beş, altı, sekiz, dokuz, on. Wommm!
– Merhaba. Dört simit lütfen!, wage ich mit einem Lächeln. Er verpackt mir die vier simit und reicht sie mir. Kaç para?
– Tiri.
Die Antwort versetzt mir einen Schock. Tiri? Ich gehe noch schnell im Kopf die Zahlen durch, von eins bis zehn. Tiri ist nicht dabei. Soviel kann es nicht kosten, dass er mir eine von mir unbekannte Summe nennt. Spricht der Mann arabisch oder irgendeinen Dialekt?
Und während er mir drei Finger vor die Nase hält und tiri wiederholt, verstehe ich, dass der alte Mann einfach nur so wenig Englisch kann wie ich Türkisch.
Heute laufe ich in Istanbul herum mit dem Kopf frei von Zahlen. Irgendwie kann ich mich schon verständigen. Auf dem Gemüsemarkt verwende ich nicht mehr kaç para? sondern ne kadar, und lasse dabei im Auslaut ein deutliches Zischen hören. Oft verstehe ich sogar die Antwort.
Ich fahre mit dem vapur auf den Fischmarkt nach Üsküdar. Was kümmern mich Datum, Lufttemperatur und Windstärke? Ich lasse den Spätsommerwind wie eine Berührung durch meine Finger wehen. Über dem Bosporus färbt die mattgewordene Sonne den Himmel rosarot und die Gischt silbergrün. Manchmal schließe ich die Augen, wie im Gedicht von Orhan Veli, um den Stimmen und Geräuschen Istanbuls einfach nur zuzuhören: dem Klatschen der Wellen, dem Lachen der Möwen, und weit, weit weg, von den Hügeln Asiens anschwellend, dem ersten Ruf zum Zuhrgebet. Und die Zahlen bleiben ungesagt.