Siehst du, Vater, den Erlkönig?

Charlie Brown: „Eines Tages werden wir alle sterben.“
Snoopy: „Stimmt, aber an allen anderen Tagen nicht.“
(Charles M. Schulz)

Dejós ma fenèstra
I a un aucelon
Tota la nuèit canta
Canta sa cançon

Auf einem Hügel mit Blick auf die Landschaft
gibt es einen Garten in Südfrankreich,
44 Grad nördliche Breite,
sein Name, Beausoleil, verheißt Sonne und Schönheit,
eine alte Obstwiese, von Eichen und Akazien eingenommen,
wo Oleander und Oliven grünen, winters wie sommers.
Im September biegen sich die Feigenbäume
unter der Last der Früchte,
im Februar blühen gelb die Mimosen.

In diesem Garten steht ein Haus, sandfarben, mit rotem Ziegeldach und einer Pergola, von einer Glyzinie eingenommen.
Da bin ich aufgewachsen.
Vor meinem Zimmerfenster steht eine Trauerweide,
im Frühjahr nisten sich singende Vögel ein.

Seit ich weg bin, vor über dreißig Jahren, hat sich fast nichts verändert. Außer, dass eine Krankheit sich in meinem Vater eingenistet hat, und wie die Ranken der Pflanzen hat sie sich ausgebreitet und hat ihn eingenommen.

Mein Vater, mein Vater… Noch bist du der Vater, ich das Kind.
Papa nenne ich dich.
Am Telefon hört man es dir nicht an, noch hebst du ab und sagst mit schelmischer Stimme:
« Yvan Rouanet, j’écoute ! »

Du hast dieses Haus selbst gebaut, erzählst du immer wieder. Sogar den Kamin aus roten Ziegelsteinen; und meinen Baum gepflanzt. Du hast dieses Haus selbst gebaut, erzählst du immer wieder.
Bevor alles verschwindet, möchte ich alles schreiben,
was von dir übrig ist, und auch was einmal war.

Du, mein Vater, Papa,
du, der Mittelmeertaucher,
Windsurfer und Schifahrer,
du, der Marathonläufer und der Ausnahmebastler;
das alles hast du mir beigebracht.
Du, mein Deutschlehrer,
ohne den ich heute nicht da wäre.

Zu allen Fragen hattest du eine Antwort,
ausführlich, bildreich und sofort:
die Sterne, die Planeten,
Früchte die Gestirne,
die Sonne eine Orange, Venus war eine Birne.
Du sprachst von den Vulkanen, von glühendem Magma,
und von den vielen Namen für die erstarrte Lava;
vom Homo Erectus und vom Neandertaler.
Du hieltst uns oft Vorträge über die Beaufortskala,
selbst über die Erdbeben und ihre Epizentren,
die Gezeitenkalender, die Sommersonnenwende,
die Tiefsee, Jacques Cousteau und seine Calypso,
wie Delphinmann Mayol
liebtest du die Big Blue.
Von Kolumbus Christoph kanntest du gar die Namen
aller drei Karavellen:
die Niña und die Pinta,
und die Santa Maria.

Selbst tanzen konntest du, du kanntest alle Schritte,
die im Viervierteltakt:
Rock and Roll und Rumba
Mambo und Cha-Cha-Cha.
Auf der Gitarre hast du mir beigebracht
Jeux interdits, die Akkorde D-A
hießen bei dir ré-la.

Du stauntest über die dreiundvierzig Weisen
den Laut « o » auf Französisch zu schreiben:
von lavabo bis Saône, von oignon bis alcool,
apôtre bis Pernod, Meursault bis Wisigoth.

Oft und gerne hast du Dichter zitiert –
schließlich hattest du Deutsch studiert –,
Heine, Victor Hugo, das alles auswendig,
die Lorelei und Goethes Erlkönig,
und jede Menge französische Volkslieder.
Als wir früher, im Juli und August,
nach Spanien ans Mittelmeer fuhren,
sangen wir Vier im Auto, entweder unisono,
oder den okzitanischen Kanon Se canta.
Du brauchtest nur anstimmen,
und wir griffen das Lied
zeitversetzt auf, die Melodie,
ich damals mit einer Kopfstimme.

Se canta, que cante
Canta pas per ieu
Canta per ma mia
Qu’es al luènh de ieu

Ich glaube, es hat alles mit der alten Standuhr begonnen.
Du wolltest immer wissen, wie spät es ist, und warum die Uhr steht.
Glastür auf, Gewichte aufziehen,
Schwingungsdauer justieren,
Glastür zu, Holzkorpus mit Keilen in die Waage kriegen.
Mehrmals am Tag.
Glastür auf, Gewichte aufziehen,
Schwingungsdauer…

Damals vermutlich hat sich deine Zeitwahrnehmung verschoben.
Damals vermutlich bist du langsam aus unserer Welt herausgefallen,
entfallen,
ins Abseits verfallen.
Es ist weniger die Vergangenheit, die dir abhandenkommt, als die Zukunft.
Es ist, als würdest du linkshändig mit der Kreide an der Tafel schreiben und deine eigene Schrift mit dem Ärmel verwischen.
Du hast noch viele Fragen, aber keine Antwort.
Wo wohnst du, wie spät ist es, welchen Tag haben wir und wie alt ist er jetzt?
Du, früher so wortgewandt, weißt manchmal Früchte nicht mehr zu nennen.
Ja,
du vergisst
du verlierst
du verirrst dich.

Du verlierst dein Handy,
die Brille, das Werkzeug,
Autoschlüssel, Geldbörse;
verwechselst die Geräte,
diverse Fernbedienungen,
mit deinem Telefon.

Du vergisst auch die Daten,
von deinem Grundstück die Maße
und die Koordinaten,
Längenbreite und -grade,
von den Leuten die Namen,
schon lange alle Geburtstage.

Gebückt spazierst du in dem Garten,
die Hände im Rücken verschränkt,
du wirkst abwesend gar gekränkt,
die Augen in Gedanken getränkt,
die blauen Augen blass und wässrig.
Im Sommer riechst du an den Rosen
im Winter streichelst du die Mimosen.
Wenn in den dürren Blättern der Wind säuselt
vielleicht sprichst du da mit den Bäumen,
vielleicht siehst du sogar den Erlkönig.

Wie spät ist es, welchen Tag haben wir, und wie alt ist er jetzt?
Ja, wie alt bist du jetzt?
Wenn du gefragt wirst, antwortest du schelmisch:
ich habe aufgehört zu zählen oder Es ist ein Geheimnis!

Noch weißt du den Namen deines Enkelkindes,
dass die Erde rund ist,
die Sonne eine Apfelsine,
und Venus eine Birne.
Dass das Ei des Kolumbus steht, wenn man es bricht,
und am Ende des Gartens eine schöne Landschaft ist.

Selbst wenn du langsam zum Kind wirst,
weiß ich noch, dass du mein Vater bist,
solange du Den Erlkönig rezitierst,
und solange du Se Canto singst.