Wenn ich an Istanbul denke

[anlässlich des 1. Irene Harand Literaturpreises, 2. Platz, 2019]

Istanbulu dinliyorum,
gözlerim kapalı…  [Orhan Veli]

Wenn ich an Istanbul denke,
denke ich an meine Schifffahrten mit dem vapur zum Fischmarkt Üsküdars,
ich spüre den Sommerwind, der wie eine Berührung
durch meine Finger weht
und sehe über dem Bosporus
die mattgewordene Sonne, die den Himmel golden färbt.

Wenn ich an Istanbul denke,
und meine Augenlider senke,
wie im Gedicht von Orhan Veli,
höre ich das Klatschen der Wellen,
die Stimmen der Stadt, ja, ich höre
das Hupen der Autos und das Lachen der Möwen,
das Klirren der Teegläser,
und weit, weit weg,
von den Hügeln Asiens anschwellend,
den ersten Ruf zum Zuhrgebet.

Oder ich höre « Action ! »,
Dreharbeiten bei der Camondotreppe, Aussen, Tag,
und die lachenden Schüler des Sankt-Georg Kollegs in ihren Uniformen, die vom dritten Stockwerk zum Filmteam runter winken.

Ich erinnere mich auch an diese frechen Bengeln mit sonngebräunter Haut und strahlendem Lächeln,
die neben den Fischern das Brückengeländer erklimmen,
um in die Wirbelströmung des Goldenen Horns zu springen.
Ich rieche das Treiböl und den heißen Asphalt.

Wenn ich an Istanbul denke,
sehe ich die Bosporusbrücke, erleuchtet nachts
wie ein Casino von Las Vegas,
das die Farben ständig wechselt,
mal rot, mal blau, mal violett.
Und wenn später der Mond sich im Meer silbern spiegelt,
weiß ich den Namen noch des Wassers wie versiegelt:
Yakamoz heißt das Wort für das Phosphoreszieren.

Wenn ich an Istanbul denke,
schmecke ich auch die Weinblätter und das Tahinıbrot,
die uns in Kuzguncuk am asiatischen Ufer
drei Schwestern geschenkt hatten,
nachdem der Muezzin vier Mal gerufen hatte,
und ich rieche den Kimyon, den Zimt, den Kardamom.

Wenn ich an Istanbul denke,
höre ich noch durch mein Fenster am Ende der Sackgasse
das Echo fröhlicher Kinderspiele,
Wurfkreisel, Ball im Käfig, Kantenspringen oder Gänsedieb.
Ich rieche den Feigenbaum und den Duft nach Jasmin,
Rose und Rosmarin.
Und ich erinnere mich an diese Silbertaube,
die mich manchmal besuchte,
das Rascheln ihrer Flügel und ihr vertrautes Gurren,
da, auf dem Fenstersims, fast wie ein Katzenschnurren.

Wenn ich an Istanbul denke,
denke ich an Gezi Park
und höre die ersten Takte des İstiklâl Marşı,
ich sehe die Graffitis çapulcu, Erdo-gone!
Keine Sorge, Mama, ich bin nur im Schlepptau.
Ich sehe duran adam, passiver Widerstand,
und eine Frau in Rot, Sommerkleid und Tote Bag,
Symbol für diesen Kampf, ihr Name ist Ceyda.

Wir tragen Taucherbrillen, manche eine Guy-Fawkes-Maske,
wir skandieren direm, Widerstand, résistance
und klopfen auf Kochtöpfe mit kaputten Holzlöffeln.

Wenn ich an Istanbul denke,
höre ich die Hubschrauber über dem Taksim Platz
und rieche das Tränengas.
Ich sehe die Gesichter mit den verätzten Augen,
die Gasgranatenschwaden über den Barrikaden,
und ein Panzerfahrzeug, das seine Gasgranate
schießt
bis in den Innenhof des deutschen Krankenhauses.
Ich weiß noch die Kopfschüsse,
Platzwunden,
Schädeltrauma,
und die verbrannten Hände durch Tränengaspatronen,
ich höre noch die Schreie,
ich spüre noch die Angst,
ich schmecke noch in der Kehle das Brennen des Biber Gazı.

Wenn ich an Istanbul denke,
sehne ich mich nach dem Wind,
der wie eine Berührung durch meine Finger weht.