Indienrot

(Romanauszug, erschienen in LICHTUNGEN – Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik, Heft 143 / XXXVI. Jg., S. 56-61.)

Am 31. Juli 1948, in einer noblen Villa der indischen Stadt Shimla, bringt sich eine Ungarin namens Marie Antoinette mit der Pistole ihres Mannes, eines indischen Sikhs, um. In einem Film würde das tragische Ereignis ganz am Ende stattfinden. Auch die Details würden wir nicht gleich erfahren. So wie ich dieser Geschichte Tag für Tag, Spur für Spur nachgegangen bin. Am Anfang des Films, keine Markierung von Zeit und Ort. Nur: Außen, Tag. Tropischer Regen. Totale auf eine Villa an einem Berghang, während Titel und credits eingeblendet werden. Grüne Dächer, verzierte Erkerfenster, von einer Kuppel überragt, kleinen Mausoleen gleich. Im Garten sind Föhren, Farnbäume und Rhododendren zu sehen. Kenner würden an der Architektur und der Vegetation die Gegend erraten können. In der nächsten Szene schwenkt die Kamera durch einen Salon. Schwere Vorhänge und Drapierungen, an den Wänden Ölbilder, gerahmte Photos und indische Miniaturen; ein kleiner Schreibtisch mit Jugendstil-Lampe. Viele Bücher und Papiere liegen herum, eine Lupe, das kolorierte Photo von zwei kleinen Mädchen mit Frisuren und Kopfschmuck der zwanziger Jahre. Wir vernehmen das Brummen eines Ventilators, Klirren von Geschirr. Die Kamera schwenkt weiter durch das Zimmer. Zoom auf einen niedrigen achteckigen Tisch aus geschnitztem Zedernholz. Detaileinstellung: dunkle Männerhände gießen Tee in eine Porzellantasse. Wir sehen, dass da jemand sitzt. Ein seidener Stoff, feine Frauenschuhe. Eine langsame Kamerarückfahrt zeigt eine weiße, elegant gekleidete Frau; sie ist älter, deutlich über sechzig. Sie sitzt völlig zusammengesunken im Sessel, ihr Haar vom Ventilator leicht verweht, gedankenverloren, der Blick wässrig, das Gesicht zerfurcht. Der Mann, offensichtlich ein Diener, trägt eine indische Tracht, weiße Jodhpurs, bandgalla und ein rotes Kopftuch. Dies würde beim Zuschauer den Eindruck bestätigen, dass wir uns irgendwo in Indien befinden.
Die Frau würde sagen: – Machen Sie bitte die Vorhänge zu und lassen Sie mich alleine.
Sie würde vielleicht aufstehen und aus einer Schublade, in der wir eine Pistole erkennen könnten, Briefe herausholen. Sie würde einen Brief aussuchen und entfalten, und eine Erzählstimme würde beginnen zu sprechen. Nein, noch würde sie nicht aufstehen, sondern nur ihren Blick durch den Raum schweifen lassen. Wir folgen dem Blick auf ein Ölbild mit einem roten Terrakotta Elefanten, auf das Porträt eines jungen Mannes, auf das kolorierte Photo mit den kleinen Mädchen. Kinderlachen würde eine Rückblende ankündigen. Überblendung des Photos. Und eine Einblendung würde erscheinen: Budapest, 34 Jahre zuvor.

INNEN. TAG. Großeinstellung auf einen schweren roten Samtvorhang. Wir vernehmen Kinderlachen. Der Vorhang bewegt sich.
Eine Kinderstimme flüstert: – Das darfst du bestimmt nicht.
Eine andere Mädchenstimme: – Ich mache, was ich will.
Aus dem Vorhang treten zwei kleine schwarzhaarige Mädchen mit Frisuren der zwanziger Jahre hervor, die größere mit dem dunkleren Teint hat einen Rötelstift in der Hand. Bevor der Vorhang wieder fällt, erkennen wir an der Wand die Rötelzeichnung eines kleinen Elefanten. Totale auf einen üppig ausgestatteten Jugendstil-Salon. Die zwei Mädchen tragen weiße Sommerkleider aus Lochstickerei. Als sie weglaufen, sehen wir, dass die Größere barfuß ist. Ranfahrt: Die Kamera folgt ihnen durch den Salon bis in den Gang, wo sie vor einer Tür stehen bleiben. Wir hören das Tippen einer mechanischen Schreibmaschine. Die Mädchen lauschen durch den Türspalt.
Das Tippen hört auf, und eine sanfte Männerstimme sagt:
– Kommt rein, kleine Mäuse!
Die Tür geht auf. Kameraschwenk durch den Raum. Ein Arbeitszimmer mit vielen Bücherregalen und unterschiedlichen Geräten: einem Linsenfernrohr, einem Teleskop auf einem Stativ, verschiedenen Photoapparaten, einem Stereoskop, einer Faltenbalgkamera… Am Schreibtisch sitzt ein bärtiger Mann mit Turban an der Schreibmaschine. Vor ihm liegen alte Bücher und Papiere. Das große Mädchen stürzt sich auf den Schoß ihres Vaters, während seine kleine Schwester von Instrument zu Instrument trippelt – sie weiß offensichtlich, dass sie sie nicht berühren darf –, vorsichtig auf einen vor dem Fenster stehenden Stuhl steigt und sich über das davor stehende Teleskop bückt.
Während die Kamera zum Schreibtisch schwenkt, hören wir sie sprechen:
– Bapu, kann man damit bis Indien sehen?
Beide Mädchen kichern. Nahe Einstellung auf den Vater mit dem Mädchen am Schoß. Der Mann ist um die Fünfzig, seine Haut ist gegerbt, sein langer Bart und sein Turban lassen ihn zwar ernst schauen, aber sein Lächeln und seine Augen drücken Gutmütigkeit und Klugheit aus. Detaileinstellung auf seine Hände: Sie liegen ruhig auf dem Schreibtisch. Dazwischen spielen zwei kleine Kinderhände mit einer Lupe. Durch die Lupe sehen wir abwechselnd persische Schriftzüge und eine Illustration, eine indische Miniatur. Dann zeichnet das Mädchen mit dem Zeigefinger Buchstaben nach, das lachende Gesicht eines , die Wellen eines schīn, die Schlaufe eines ghāf und fragt:
– Bapu, Duci, was steht denn da geschrieben?
Der weißbärtige Mann fängt an zu lesen und zu übersetzen:
Ich und die Kerze … die Nachtigall und der Falter … wir alle sind gleich; weißt du, es ist ein Gedicht der ältesten Tochter des Mogul-Kaisers Aurangzeb. Sie hieß Sibunnisa Machfi.
Die Off-Stimme der Kleine unterbricht:
– Ich kann einen roten Elefanten sehen!
Die Mädchen kichern erneut. Die Große zur Ablenkung:
– Bapu, Duci, erzähl uns von Indien, wie das letzte Mal, von deiner Hochzeit mit Mama!
Die Kleine setzt fort, stellt eine Frage nach der anderen, wie ein Wasserfall, ohne auf die Antworten zu warten:
– Du Bapu, werden wir einmal hin, nach Indien? Nehmen wir das alles mit? Die Geräte und auch das Klavier? Amri sagt, dass es dort rote Elefanten gibt, stimmt es? Sag Bapu, wie ist es in Indien?
Der Vater blickt nun ins Leere. Die Kamera schwenkt durch das Zimmer. Zum Bücherregal, zur Faltenbalgkamera, zum Teleskop und zum Fenster. Fixe Einstellung aufs Fenster.
Der Vater im Off:
– In Indien ist alles … rot.
Langsame Kamerazufahrt durch das Fenster. Die Hügel Budapests, die Donau. Kameraschwenk am Fluss entlang. Überblendung auf eine nordindische Flusslandschaft mit Wäscherinnen in korallenfarbigen Saris. Detaileinstellung auf ein wunderschönes Frauengesicht mit Zinnoberpulver an der Stirn. Der purpurne Seidenstoff, der ihren Kopf umhüllt schimmert im Abendlicht. Und die sanfte Stimme des Vaters sagt aus dem Off:
– Ja, in Indien ist alles rot!
Ende der Sequenz.

Aufschrift « BOMBAY PORT TRUST ». Tag, Sommer. Der Hafen von Bombay. Es wimmelt von Menschen, vor allem Inder mit bunten Turbanen, Kofferträger, Eselskarren, ein scheinbar ungeordnetes Treiben. Diese zeitlose Szene kann durch die Anwesenheit einiger Automobile in die zwanziger Jahre datiert werden. Ein großer Ozeandampfer legt an. Die Gangway wird heruntergelassen und von Schauermännern mit Tauen am Kai befestigt. Eine Fanfare spielt einen englischen Walzer. Die Passagiere warten ungeduldig und strahlend an der Reling, bis sie ans Land können. Die Meeresluft weht durch die Kinderhaare und die hellen Frauenkleider.
Ein schwarzer Ford, Modell T, wartet auf die Familie. Den Mädchen werden safranfarbene Blumenkränze um den Hals gehängt. « Welcome to India! » Amrita lacht. Auf der schleppenden Fahrt durch die Stadt muss die kleine Indira die Augen zu machen, sie fürchtet sich: der Lärm, die hageren sonnengebrannten Rikschamänner, die bloß in ein weißes Leintuch gekleidet sind, ein Affe auf dem Autodach, der seine Zähne zeigt, die Kobras, die sich nach der Musik der Flöte bewegen, der Gestank nach Fisch und nach Kloake. Amrita lacht. Sie sieht die dunklen Gesichter der Kinder, die bunten Farben der Saris und erkennt das Indien ihres Vaters, das Indien der Gedichte und der Miniaturen, alles ist da: die Männer, ihre Hüften unvorstellbar schmal, ihre Hautfarbe silbern, ihre Brauen geschwungen wie ein Bogen, die Frauen schön auch ohne Schuhe, ohne Schminke, ohne Schmuck. Sie will alles einfangen, alles zeichnen, mit den neuen Farben, die sie auf dem Schiff zum Geburtstag bekommen hat, die Wasserverkäufer, die Kokosnusshändler, hier diesen hockenden Mann, der sich beim Brunnen wäscht, da diese zwei Bettelmönche mit den rollenden Augen, die Stirn mit oranger Farbe geschminkt, der Körper mit Asche bedeckt. Ein Elefant mitten auf der Straße bremst den ganzen Verkehr. Der Ford fährt langsam an einem Markt vorbei. Eine alte Frau sitzt auf dem Boden mit ein paar Kräutersträußen zum Verkauf, ihre Handflächen sind rot gefärbt, daneben ein Kind mit einer Handvoll Mandeln in einem Korb, eine magere Kuh stiehlt einen Bund Petersilie, Amrita hält alles fest; buntes Gemüse, Früchte und Knollen, wie sie sie noch nie gesehen hat, farbprächtige Gewürzpulver, die zu kunstvollen Pyramiden aufgetürmt sind. So viele Rottöne kann sie nicht einmal benennen! Sie kennt Blutrot, Kirsche, Ziegelrot, Mohnfarbe, Feuerrot, Paprika, ach ja, Purpur, Rubin, und in ihrer Farbpalette gibt es noch Krapprot, Zinnober und Amarant … und diese Blumen da, so seltsam … ihr Vater hat von einer Blume erzählt, deren Duft so stark ist, dass man ohnmächtig wird.
Bildschnitt.
Neue Aufschrift GREAT TRANS INDIA RAILWAY. Der Zug verlässt die Victoria Station. Wie bei der Autofahrt, kein Blick ins Innere des Wagens. Die Landschaft rollt am linken Fenster vorbei. Der Zug fährt lange am Meer entlang, schwarze Felsen, bald untergehende Sonne. Amrita sieht die Schönheit der indischen Frauen, die nackten Kinder, die kleinen Tempel, die Elefantenstatuen. Bald kommen die Felder und die Dörfer. Lehmhäuser, Stampferde. Sie sieht die seit Tausenden von Jahren gleichen Gesten, das Schöpfen des Wassers aus einem Brunnen, das Formen der Kuhfladen und Klatschen zum Trocknen an die Hüttenwand. In den Bahnhöfen, wo sie Halt machen, laufen Kinder in Schuluniformen am Bahnsteig und schreien den Passagieren « Namasté! » zu. Ein breiter Fluss wird überquert: Große, weiße Tücher trocknen in der Abendsonne, an den Ghâts stehen Menschen bis zur Taille im Wasser und vollziehen ihre Rituale, weiter weg baden Elefanten. Hier und da bilden am Straßenrand ein paar Steine einen Altar, Räucherstäbchen und Kerzen, Blumenblätter und Früchtegaben. In der Ferne sind die schlanken Minarette einer Moschee zu sehen, und in den Feldern die bunten Farbflecken der Saris. Hier tragen die Frauen große Ohrringe und einen Schmuck im linken Nasenflügel.
Die Erde wird ockergelb und dürr. Die Bäche ausgetrocknet. Die weite Fläche der Felder verwandelt sich langsam in eine Gebirgslandschaft. In der Ferne die verschneiten Gipfel des Himalaja. Eine weiße Stadt hängt wie ein Bienenschwarm am Bergrücken. Shimla, Queen of Hills.

Großaufnahme auf einen gusseisernen Kochtopf auf offener Flamme, in dem ghee langsam schmilzt und durchsichtig wird. Eine Frauenhand streut Gewürze in die goldgelbe Flüssigkeit. Wir erkennen Nelken, Zimtstangen und Anissterne. Es fängt an zu brutzeln, zu zischen und zu knistern. Die rechte Hand rührt um, während die linke weiter Gewürze einstreut. Wir sehen mit der Köchin, wie die grünen Kardamomkapseln explodieren, die kugelrunden schwarzen Senfsamen springen, die kleingehackten Ingwerstücke sich verfärben und die roten Chilischoten sich langsam aufblähen. Wir riechen fast den Duft der Mischung. Scharf und süßlich zugleich. Schließlich färbt das Kurkumapulver die ganze Mischung gelb.
In der Ferne vernehmen wir Musik, seltsame Klänge, langsam aufsteigende Töne einer Oboe, die sich bald mit dem Zischen in der Pfanne vermischen. Nun werden die Gewürze mit Bouillon übergossen, weißer Dampf steigt hoch, wird undurchdringlich, das Bild wird langsam unscharf und verwandelt sich in eine blassere Weihrauchwolke. Während dieser Bildfolge ist die Melodie zu einer schrillen lang anhaltenden Klage geworden. Ein tieferes Blasinstrument kommt dazu, beginnt um einen Ton zu kreisen, hält ihn fieberhaft und lässt diese klägliche Note wieder und wieder erklingen. Die Weihrauchwolke verflüchtigt sich nach und nach. Nun greifen tablas den Rhythmus auf, wirbeln und pochen wie ein Herzschlag. Die Musik wird immer lauter, das Tempo immer schneller, als ob sich die Instrumente einen Wettkampf liefern würden, und durch den sich auflösenden Rauch geht das unscharfe Bild des Kochtopfes weich in ein anderes über.
Ein kleines Mädchen sitzt mit übergeschlagenen Beinen auf einem Diwan, perlweiße Seide auf dem Kopf drapiert. Rundherum sind indische Frauen in farbenprächtigen Kleidern, Gold und Silber, Rubine und Diamanten, Smaragde und Perlen. Die Steine werfen Funken im Raum, und das Babel ihrer Stimmen übertönt beinahe die Musik. Nur eine sitzt einsam und schweigend. Angst und Müdigkeit in ihren feuchten Augen. So schwarz die Augen, so schwarz die Haare. Ihre Lippen zwei Rosenblättern gleich. Ein goldener Ring ziert ihre kleine Nase und eine rote tika ihre Stirn. Ihre Hände und Füße sind mit Henna geschmückt. Das Mädchen ist versprochen. Mit dreizehn Jahren ihre Kindheit zu Ende. Hilfloses Spielzeug in den Händen reicher ranis und rajahs. Vielleicht war die letzte Ernte schlecht, oder der Vater hat keine Söhne bekommen. Eine arrangierte Hochzeit als einzige Überlebenschance. Selbst die Tränen ihrer Wangen werden nichts erlangen. Den Bräutigam hat sie einmal gesehen, als die Ehe besiegelt wurde. Es heißt, er sei erfahren und kräftig. Er ist über fünfzig und hat schon drei Frauen.
Armes, kleines indisches Mädchen, ihrem Schicksal ausgeliefert. Trotz glücksbringendem Goldschmuck, trotz festlichem Hochzeitsessen wird sie vielleicht kaum mehr als ein Jahr leben, die Geburt ihres ersten Kindes nicht überleben, oder an einem Unfall oder Verbrennungen sterben, Racheakt der Schwiegerfamilie. Bloßes Auslöschen der Lampe im Morgenlicht.
Und während das Brautpaar das heilige Feuer siebenmal umkreist, wird über der Szene die laute Ragamusik weiterspielen, aufdringlich, betäubend und schmerzend.

Eine Wiese am Forstrand. Im Hintergrund ein weißer Kirchturm. Am Saum des Waldes ein Planwagen und zwei Zelte. Dazwischen zwei grasende Pferde und ein paar Hühner. Eine Frau sitzt auf einem Schemel im Schatten eines Baumes. Sie trägt ein rotes Kopftuch und bunte Kleidung. Ihre Bluse ist offen und enthüllt den Ansatz ihres Busens. Auf ihrem Schoß, in den Falten ihres Rockes liegt ein gepucktes Baby. Es schläft. Die junge Mutter spinnt Wolle mit einer Handspindel in einer raschen und geschmeidigen Geste und summt dabei eine wehmütige Melodie, die bald von Kinderstimmen überdeckt wird.
Die Kamera schwenkt nach links in Richtung der Kinderstimmen. Wir sehen einen kleinen Buben, der eine Ziege an der Leine führt; zwei kleine blonde Mädchen sitzen in der Wiese neben einem größeren Mädchen, vielleicht zwölf, das mit aufgestelltem Kopf auf dem Bauch liegt und an einem Grashalm kaut. Ihr Rock und ihre ärmellose Bluse sind orange, gelb und violett moiriert. Ein langer schwarzer Zopf reicht ihr bis zu den Hüften. Ihre Haut ist honigbraun, der Schmollmund kindlich und sinnlich zugleich, und die Brauen über ihren dunklen Augen sind wie Vogelflügel gebogen. Neben ihr ein leerer Flechtkorb.
Die ganze Szene ist vom hochsommerlichen Licht durchflutet. Alles erscheint luftig und leicht. Die Konturen des liegenden Mädchens heben sich von dem grünen, mit weißen Blümchen gesprenkelten Hintergrund ab, von tausenden von Grünklängen, schillernden Farbnuancen, vibrierenden Tupfen und schimmernden Strichen in Türkis und Opal, Gelboliv und Smaragd. Wir versinken beinahe im Duft der Erde und im süßen Geruch der Wiesenblumen.
Der kleine Bub stellt sich neben das liegende Mädchen und dreht sich zu uns und zur Kamera. Der etwa Fünfjährige hat kurzgeschorene pechschwarze Haare und schaut schelmisch und frech:
– Džanes romanes?
Das liegende Mädchen lacht laut auf, während der Bube redet und redet:
–   Sar bušos? Me bušav Milosch! Katar aves?
Währenddessen fährt die Kamera zurück, und wir entdecken Amrita an der Staffelei, die die Liegende und das Gräsermeer auf Leinwand malt.
– Was sagt dein Bruder?
– Er fragt, ob du unsere Sprache sprichst, weil du wie eine von uns ausschaust! Ich habe ihm gesagt, dass du eine Gadži bist, aber er glaubt mir nicht! Und er fragt, ob du ihm auch einen Pengö gibst, wenn du ihn malst!
– Sag ihm, dass man dafür lange still sitzen oder stehen muss!
Aber der Lausbub hat sich mit seiner Ziege schon längst aus dem Staub gemacht.
Stille, nur das Babbeln und Kichern der zwei kleinen Mädchen ist zu hören, die aber bald aufstehen und unser Blickfeld verlassen. Amrita malt die letzten Pinselstriche. Weiß­höhungen auf der Wiese und im Inkarnat der Lippen. Das Modell fängt zu singen an und schnalzt dabei rhythmisch mit den Fingern:
– Amen sama but Roma – Kaj phirasa ped Roma – Pala mange but Roma – Si ma romnji phurani – Palaj mange voi terni -Palaj mange naj prvi…
– Es ist schön, was du da singst, was bedeutet das?
– Es ist ein Lied über uns, die Roma, es sagt „Die guten Menschen sind auf den Straßen unterwegs, und…“
Sie wird vom kleinen Bruder unterbrochen, der im Vorbeigehen, diesmal ohne Ziege, das Lied aufgegriffen hat und weiter singt:
– Si ma romnji phurani – Palaj mange voi terni – Palaj mange naj prvi…
Das Mädchen lacht erneut:
– Er singt: „Ich habe eine alte Frau, aber für mich ist sie die Schönste und die Jüngste!“
Amrita lacht auch über den lebhaften Bengel.
– Das Lied singen wir immer auf Festen und Hochzeiten, Papo, ich meine Großvater, spielt die Bratsche und mein Vater die Klarinette. Die Leute tanzen gerne dazu, und weißt du, wir spielen auch für die Gadže, und wenn du willst, können wir auch bei deiner Hochzeit singen, wenn du den Gadžo heiratest, der dich immer begleitet, wie heißt er noch?
– Victor. Aber Kalia, ich will noch nicht heiraten, ich bin zu jung dafür, ich bin erst neunzehn…
– Na und? Meine Mutter war viel jünger! Und da hat sie mich gleich bekommen, dann kam mein anderer Bruder, den du nicht kennst, weil er mit Vater Geschäfte macht, sie sind manchmal viele Tage weg, dann erst Milosch… das heißt, nein, dazwischen ist ein Baby gestorben, dann Lali und Anna, die Zwillinge sind, und jetzt das Baby.
– Wie heißt es denn?
– Eigentlich Lazlo, wie unser Papo, aber wir nennen es Booba… Du, sag, wenn du mit dem Bild fertig bist, machst du noch eins von mir? Für zwei Pengö würde ich auch nackt für dich posieren, aber heute muss ich bald Schluss machen, ich muss noch Obst pflücken gehen, bevor es dunkel wird.
Vom Forstrain kommt uns ein junger schlanker Mann entgegen. Wir sehen zum ersten Mal den erwachsenen Victor. Er trägt eine weiße Leinenhose und ein kurzärmliges Hemd. Amrita umarmt das Zigeunermädchen und sagt zum Abschied:
– Kalia, Kleine, vielleicht hast du recht mit dem Gadžo
Vorsichtig nimmt sie die Leinwand von der Staffelei. Victor klappt Feldstaffelei und Malhocker zusammen und steckt sie sich unter den Arm, den Malkoffer nimmt er in die linke Hand, die rechte streckt er dem Mädchen entgegen. Amrita fügt hinzu:
– … aber nicht mehr in diesem Sommer, vielleicht nächstes Jahr!
– Nächstes Jahr? Wir sind nächstes Jahr sicher nicht mehr hier, weißt du, wir ziehen immer weiter, wir reisen durch das Land, von Stadt zu Stadt, wie die Bienen von Blume zu Blume!
Kalia hebt ihren Korb auf, winkt Amrita und Victor ein letztes Mal zu und verschwindet aus unserem Blickfeld. Im Off können wir sie noch hören:
– Also bis morgen! Und ihre singende Stimme verliert sich im Grün der Sommerwiese:
Amen sama but Roma – Kaj phirasa ped Roma – Pala mange but Roma

PARIS. AMRITAS ATELIER. MORGEN.
Totale Einstellung. Ölbilder von Amrita, Boris und Marie-Louise stehen nun am Boden: Porträts und Selbstbildnisse, Pariser Landschaften und ungarische Dörfer, Akte und Stillleben. Amrita steht an der Staffelei. Sie trägt einen schwarzen wallenden Malkittel; an der rechten Hand bunte Perlenketten, die bei jeder Bewegung leise klirren. Sonst ist Stille. Die Morgensonne durchflutet das Zimmer. Auf der Chaiselongue liegt in lasziver Pose eine junge Frau, auf die Ellbogen gestützt, und liest aus einem Buch. Sie ist nackt. Ihre Haut ist sehr hell. Sie sagt:
– Hör dir das an, es ist für dich geschrieben:
Tes pieds sont aussi fins que tes mains, et ta hanche
Est large à faire envie à la plus belle blanche

À l’artiste pensif ton corps est doux et cher

Tes grands yeux de velours sont plus noirs que ta chair
Sie hält inne, dann:
– Wir lernen es jetzt auswendig, komm, wiederhol nach mir
tes pieds sont aussi fins que tes mains …
Amrita sagt sanft:
– Marie, lass mich arbeiten und hör auf, dich zu bewegen.
Sie hat einen leichten, sehr sanften Akzent.
Das Mädchen sagt weiter auf:
– …et ta hanche est large à faire envie à la plus belle blanche …
Sie kichert dabei schelmisch und wiederholt:
– … à faire envie!
dann vor sich hin, nur noch flüsternd,
– … à l’artiste pensif ton corps est doux et cher …
Großeinstellung auf Amritas Hand und den Pinsel. Während die Kamera entlang dem Frauenkörper auf der Leinwand gleitet, spricht Marie aus dem Off weiter:
– … à l’artiste pensif ton corps est doux et cher …
Aus Amritas Blick: Marie streckt sich nach einer Cognac-Flasche auf einem kleinen Tisch, dabei rutscht das rote Seidentuch, das ihre Hüfte bedeckt, zu Boden. Sie nimmt einen Schluck aus der Flasche und stellt sie wortlos zurück. Statt sich wieder in Positur zu legen, setzt sie sich nun zusammengekauert auf, schließt die Augen und wiederholt bedächtig langsam:
à l’artiste pensif ton corps est doux et cher …
Amrita nähert sich. Weiter aus ihrem Blickwinkel: Kamerazufahrt zur Chaiselongue, dann Maries Gesicht in Naheinstellung. Eigentlich Aufsicht, da Amrita nun vor dem nackten Modell steht. Marie lächelt fast unmerklich. Sie hat die Augen noch immer geschlossen. Amrita streicht ihr leicht über die Wange. Dabei klirren wieder ihre Armketten. Marie öffnet die Augen, schaut hoch zu ihrer Freundin und flüstert:
– tes grands yeux de velours sont plus noirs que ta chair.
Ihr Blick ist kindlich und lüstern zugleich. Sie schmiegt ihren Kopf an Amritas Bauch. Amrita umschließt Maries Gesicht mit beiden Händen, schüttelt den Kopf, ihre schwarzen Haare fallen auf ihre Schultern und über den Rücken, Marie entkleidet sie und zieht sie an sich. Sie taumeln und fallen. Küssen sich. Amerikanische Einstellung auf ihre nackten Körper. Beide Körper gleich fein und weich, Schenkel, Hüften, Brüste, nur der Farbkontrast ist erstaunlich: Maries blasser Teint und Amritas ambrafarbene Haut. Alles geschieht langsam und harmonisch. Sie umarmen sich zärtlich, wiegen sich, schmiegen sich Hand in Hand, Bauch an Bauch, Bein in Bein. Aneinander. Ineinander.
Weicher Bildschnitt.
Aufblende. Selbe Kameraeinstellung. Marie liegt jetzt mit dem Gesicht zur Wand. Vor ihr Amrita auf dem Rücken, im Profil. Sie haben sich mit dem roten Seidentuch bedeckt. Jetzt sieht man, dass es mit einem schwarzen Drachen bestickt ist. Amrita beginnt zu sprechen:
– Weißt du, der Winter in Indien … es ist völlig anders als all das, was du dir vorstellen kannst. Anders als alles, was du je gehört hast.
Sie dreht sich zu Marie, stützt sich auf den linken Ellbogen und beginnt, die Konturen ihres Körpers mit dem Zeigefinger nachzuzeichnen. Während sie weiter spricht, schwenkt die Kamera durch das Zimmer, von Bild zu Bild, Gypsy Girl from Zebegény, das fertige Porträt von Boris mit den Äpfeln, Young Girls, Notre Dame.
– Das Land ist einfach wunderschön, endlose karge Flächen, die Erde granatrot, gelbgrau, ockerbraun, und die Menschen … unglaublich dünn und dunkel, traurig und schweigsam … und über allem schwebt eine Art … Melancholie.
Self-Portrait at Easel, Madame Taslitzky, Young Girls, Sleep.
– Und dann gibt es diesen wunderbaren Ort, den stillsten Ort, den ich je erlebt habe. Man weiß nicht, was Stille ist, was sie sein kann, solange man diesen Ort nicht gesehen hat. Ellora, die Höhlentempel.
Study of Model, Marie Louise Chassany, Yusuf Ali Khan, Reclining Nude.
Stell dir vor: gewaltige Felsen, in die Höhlen hineingeschlagen wurden, mächtige Säulen mit verzierten Kapitellen, und in den vielen niedrigen Höhlen: Stille, und ein märchenhaftes Zwielicht.
Die Kamera hat nun das ganze Atelier umkreist und kehrt jetzt zu den zwei Freundinnen zurück. Sie liegen noch immer auf der Seite, Marie Amrita den Rücken kehrend, das Gesicht zur Wand, eng aneinander geschmiegt.
– … Wasser sickert durch die Felswand, und überall sind Skulpturen, einmalige Skulpturen und Einsamkeit.
Wir nähern uns den Gesichtern, dann wechselt die Kamera in die vertikale Aufsicht und überblickt beide Frauenprofile in Nahaufnahme.
– Ich muss nach Indien zurück, verstehst du? Ich gehöre dorthin, und Indien gehört zu mir.
Über Maries rechte Wange fließt eine stille Träne.