Verwundete Amazone – ein Lockdown-Gedicht

(Über die Amazone vom Ephesos Museum, Wien)

Verwundete Amazone, 2. Hälfte 4. Jh. v. Chr., Marmor, Ephesos Museum, KHM Wien

Nackt. Sie ist nackt. Ihr Körper kaum verhüllt in einem weißen Tuch. Sie schläft. Trunken von Stille und Glut. Für immer versteinert ihr edles, fahles Profil, ihr verträumter Blick hinter den Augenlidern, der ernste Ausdruck ihres Gesichts, ihr bitterer Mund, so fein ziseliert in den Samt ihres Fleisches. Ein Schatten gleitet über ihre Wange, die Stirn bewohnt von unnahbaren Träumen, taub gegen alle Geräusche der Straße, die Hufe der Pferde und deine Schritte auf dem knarrenden Parkett. Anmutig wie ein schlafendes Kind.
Der Arm grazil gewölbt, wie ein saftiger Halm, die Finger sanft geschmiegt in die rieselnden Wogen ihres glänzenden Haars.
Du darfst sie bloß nicht nennen, ihren Namen nicht flüstern. Träumende aus Marmor, rätselhafte Hygie, ungreifbare Kore, dem Strom des Vergessens verfallen. Vage Erinnerung an eine ferne Reise, an eine frühe Liebe.
Sie schläft. Sie ist nackt. Ihr Körper scheint sich fast nach Sinneslust zu sehnen. Welch fleischliche Begierde, welch ungeahnten Rausch findet sie in der Lethe? Schlägt ein steinernes Herz in dem verletzten Busen?
Die Wintersonne wirft ihre wärmenden Strahlen, ein aufsteigender Staub schwebt in der warmen Luft, und ihre weiße Haut glitzert wie kristallines Glas.

Du bist allein mit ihr. Wie leicht wäre es dir, dich ihrer scheuen Sanftmut hinzugeben, eine zitternde Hand nach ihrer glatten Haut zu reichen, und langsam nachzuzeichnen, ihr diaphanes Profil, die Kontur ihrer Wange, die Kurve ihrer Hüfte, die Brüste Alabaster, und ihre Haut zu wärmen. Flüchtig ein Kuss in ihren kühlen Nacken; da ihren Hauch verspüren. Oder schwungvoll das Tuch in tausend Splitter reißen.

Und doch, du wirst es nicht tun, die verbotene Geste, die verdrießliche Geste, die verlorene Geste. Du bleibst nur da, verträumt, du stehst nur da, versteinert, die Pose prägt sich langsam und tief in dein Gedächtnis.

Noch lange wirst du spüren die Glut in deinen Fingerkuppen, die feurige Wärme, die blendende Leuchtkraft dieses ermatteten Frauenkörpers. Für immer wirst du bewahren das klare Bild dieser unaussprechlichen Schönheit. Und sie wird dich begleiten, immer während, immerfort, immerzu. Verehrtes Götzenbild, angebetete Muse, ihr Name unsagbar. Wie dein nacktes Begehren.