„Die Sache Gorman“ geht von einer falschen Prämisse aus, denn die Debatte dreht sich um die Frage: „Wer darf übersetzen?“. Die Teilnehmer:innen behaupten, sich mit dem Handwerk des literarischen Übersetzens auszukennen und urteilen zu dürfen. Damit entsteht ein verzerrtes Bild der Mechanismen des Berufs. Beim literarischen Übersetzen (viel mehr als bei jeder Art von juristischer oder technischer Übersetzung etwa) lautet die Frage nicht, wer darf, sondern wer kann. In erster Linie.
Wovon reden wir, wenn wir von literarischer Übersetzung sprechen? Abgesehen von einer fundierten Sprachkompetenz in beiden Sprachen soll sich die Übersetzerin in eine fremde Welt, einen fremden Sprachduktus, eine fremde Perspektive einfühlen können. Im Grunde müsste es sogar möglich sein, Texte werkimmanent zu übersetzen (was bei älteren Texten manchmal nicht anders geht, aufgrund fehlender biographischer oder historischer Quellen). Natürlich ist das Einbeziehen biographischer, kultureller, historischer Bezüge von Vorteil, im Falle Gorman sage ich sogar unumgänglich, da diese auf den Text einwirken. Und weil bestimmte Begriffe je nach Alter, kulturellem Kontext, Hautfarbe (jawohl!), sexueller Orientierung eine andere Konnotation annehmen können. Ich meine ein Erkennen von Stilmitteln und kulturellen und biographischen Hintergründen.
Also im Fall von „The Hill We Climb“ das Erkennen von typischen Mitteln der Spoken Word Poesie: Die Reime sind zwar nicht sehr recherchiert (arms/arms, it/it/it), und es gibt auch ungereimte Verse mit fallendem Rhythmus, dafür sind die Assonanzen (arms/arms/harms/harmony, If we merge mercy with might/and might with right) und die Alliterationen (we grieved, we grew, we tired, we tried, weathered and witnessed, benevolent but bold, our inaction and inertia/will be the inheritance) umso reicher; der Rhythmus, wie ein Staccato (of what just is/isn’t always just-ice), die absichtlichen Wiederholungen (We will rise from…; if only we’re brave enough…; that even as we…). Bei diesem Gedicht sollten auch intertextuelle Bezüge berücksichtigt werden (in this faith we trust, everyone shall sit under their own vine and fig tree).
So viel zur „hermeneutischen Leistung“ einer Übersetzerin.
Der Einwand, dass eine nicht-binäre weiße Europäerin (Marieke Lucas Rijneveld) oder ein alter weißer Katalane (Víctor Obiols) nicht befugt sein sollen, eine zierliche Afroamerikanerin in ihre Sprache zu übersetzen, ist genau so sinnlos, wie wenn man den Leser:innen oder Hörer:innen einer Literatur, ob im Original oder in Übersetzung, die aus anderer „Herkunft“ als der eigenen stammt, die Fähigkeit zur Empathie absprechen würde. Empathie für die Autorin, den Autor, die Figuren oder die geschilderte Thematik (Rassismus, Homophobie, Shoah, Armut…).
Leser:innen und Übersetzer:innen können sich in die Autorin hineinfühlen. Als Leser kann und will man in die Haut anderer, fiktiver oder non-fiktiver Figuren schlüpfen. Aus dem Grund lesen wir doch! Und aus eben dem Grund übersetzen wir auch.
Es macht keinen Sinn, zu fragen, ob man dasselbe Alter, Geschlecht, dieselbe sexuelle Orientierung, Hautfarbe, politische Gesinnung haben sollte, um eine gute Übersetzerin zu sein, ob man als Frau Stendhal und Flaubert übersetzen darf (Elisabeth Edl), als weißer Mann Toni Morrison (ins Deutsche u.a. Thomas Piltz), ob man ein junger Homosexueller aus dem Arbeitermilieu sein muss, um Édouard Louis zu übersetzen, ob man im Gefängnis gewesen sein muss, um den chinesischen Dichter Liao Yiwu, Vergewaltigung oder Inzest erlitten haben muss, um Virginie Despentes oder Christine Angot zu übersetzen. Oder wie Kollege Frank Heibert es auf den Punkt bringt: „Wer den Ödipus übersetzt, muss nicht zuvor den Vater umbringen und mit der Mutter schlafen.“ Es kursieren viele derartige Witze, etwa „Herman Melville war kein Wal“ (Jo Lendle).
Soll also Amanda Gorman von einer zierlichen, jungen Schwarzen übersetzt werden, um von jungen schwarzen Europäerinnen gelesen zu werden? Unsinn!
Es soll aber nicht bedeuten, dass wir uns beim Übersetzen die Frage der Identität und der Identifikation nicht stellen. Wir kennen unsere Fähigkeiten und unsere Grenzen: Wenn uns ein Text unzumutbar vorkommt, werden wir ihn ablehnen – das gehört zu unserem Berufsethos, meinem jedenfalls. Fühlt sich ein:e Übersetzer:in der experimentellen Sprache der Oulipo oder der Kanak Sprak eines Zaimoglu nicht gewachsen, wird er, sie sich wohl nicht daran heranwagen, aber das hat nichts mit Identitätsfragen zu tun, sondern mit der Einschätzung der eigenen sprachlichen Gestaltungsfähigkeit. Mit der Zeit und der Erfahrung entwickelt man übrigens auch gewisse Affinitäten für Genres, Thematiken und Autor:innen.
Was ist also bei der Geschichte passiert? Bei Gormans Gedicht geht es um etwas anderes. Es ist kein Meilenstein der Literatur, sondern viel mehr ein politisches Statement, fast ein historischer Moment.
Die Verlage haben da einen Marketing-Coup geschnüffelt. Ich nenne es die Bling-Bling-Seite des Literaturbetriebs. Es musste schnell gehandelt werden, es ging um Medienaufmerksamkeit, damit um kommerziellen Gewinn. Die inkriminierten Verlage haben da eine Bresche geschlagen, und die social media, Medien und Kritiker sind ihnen blindlings gefolgt.
Für den holländischen Verlag war klar, dass Rijneveld, die gerade den Booker Prize 2020 gewonnen hatte, für Prestige sorgen würde. Ihre Eigenschaft als nicht-binäre Person – die immer wieder betont wird – schien ein Patent zu sein für ihre Empathie für jede Form der Minderheitenunterdrückung. Es ist etwas Wahres daran. Das Team Gormans hatte auch sofort zugestimmt, so der Verlag Meulenhoff. Sie hätte vermutlich ein gutes Gedicht geschrieben. Wie ihr „Rückzugsgedicht“ gezeigt hat. Sie kann das. Und wird eine junge holländische Schwarze das besser machen, weil sie schwarz ist? Empfinden alle jungen schwarzen Frauen gleich, weil sie schwarz sind?
Mein Fazit: Es ist schade, dass wirtschaftliche Interessen auch in der Literaturbranche an Boden gewinnen. Wir Übersetzer:innen arbeiten ständig an einer besseren Sichtbarkeit. Diese Debatte hat uns zwar sichtbar gemacht, aber indem sie die Übersetzung instrumentalisiert, nicht ihre Möglichkeiten ausgeleuchtet hat.
Dabei stehen wir durch unsere Arbeit für eine inklusive, kosmopolitische, solidarische und empathische Gesellschaft. Durch das Übersetzen machen wir Ungerechtigkeiten, Minderheiten, andere Lebensformen sichtbar und begreifbar. Wir übersetzen trotz oder jenseits der Unterschiede in Geschlecht, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung. Wir wollen mit Sprache verbinden, nicht spalten. Im Sinne von Amanda Gormans Gedicht:
we are striving to form a union that is perfect.
We are striving to forge a union with purpose,
to compose a country committed to all cultures,
colors, characters and conditions of man.
We’ve seen a force that would shatter our nation
rather than share it.
Oder, den Gedanken des freien Markts weiterspinnend, warum nicht mehrere Fassungen des Gedichts übersetzen lassen? Oder Übersetzungsteams bilden, wie die Freud-Übersetzungen in Frankreich, oder der deutsche Verlag Hoffmann und Campe, der das Gorman-Gedicht von drei unterschiedlichen „Expertinnen“ übertragen lässt: der Übersetzerin Uda Strätling, der schwarzen Journalistin Hadija Haruna-Oelker und der Muslimin und Feministin Kübra Gümüşay. Denn, wenn man dem Verleger Tim Jung glaubt,
„steht am Ende ein fantastisches Ergebnis“.