Das Istanbul-Syndrom

(erschienen in Schreibkraft, Das Feuilletonmagazin, Heft 35: « Bitte wenden », Juni 2020, S. 86-87.)

Es war nicht in Florenz, es war nicht in Paris, es war nicht in Jerusalem. Es war auch nicht während eines dieser hektischen Städtetrips: „Entdecken Sie in drei Tagen den Zauber des Orients und die größten Shoppingmalls Europas“. Nein. Ich wohnte in Istanbul seit nun acht Monaten, war bereits ohne Reiseführer und Stadtplan unterwegs. Ich schlenderte durch die Stadt, die Hände in den Taschen, und machte keine Fotos mehr.

Ich war schon öfters in Paris, in Marokko und sogar in Indien gewesen. Ich hatte die schwindelerregende Kuppel des Taj Mahals und den Palast der Winde gesehen, kannte schon das tosende Rauschen und die Morbidität der Straßen Old Delhis und des Platzes Djemaa el Fna, die mystische Stimmung der Pilgerstadt Pushkar und die Leichenverbrennungen an den Ghats von Banganga.

Ich bekam keine krankhaften Angstzustände oder religiösen Halluzinationen; keine „himmlischen Empfindungen“, keine spirituelle „Ekstase“, wie Stendhal sie in Florenz erlebte. Es war auch keine bewusste Abdrift der Gefühle, wie Pierre Loti sie in Aziyadehs Stambul inszenierte. Nichts von all dem.
Es war nichts als ein Schwindel. Und es klopfte mir das Herz. Es kam über Nacht, heimtückisch und ausweglos.
Der Abend davor: ein lauer April. Ich war dem Wiener Winter entlaufen. Gerade angekommen. War mit Freunden zu einem Konzert verabredet. Schülerband. Davor ein Bier in der Artischocke, am Fuße des Galataturms. Der Festsaal der Schule: überhitzt. Zwei, drei jazzige Nummern, die warme Stimme einer lasziven Lehrerin, die Begeisterungsrufe der Zuschauer, und dann kam dieser schwarz gekleidete Maturant mit Sonnenbrille. Wieder Begeisterungsrufe der Zuschauer. Der pochende Rhythmus der Bassgitarre, die ersten Riffs, und dann die Stimme, dunkel und düster:

People are strange
when you’re a stranger
Faces look ugly
when you’re alone

Es war ein plötzlicher Blackout. Hohes Pfeifen einer Mikrofonrückkopplung in meinen Ohren, der tiefe Bass pulsierend in meinen Schläfen, die Schrillheit der Gitarre schnürte mir die Kehle zu, die Zunge klebte am Gaumen, der Atem wie beraubt, flaues Gefühl im Magen, das Herz beklommen, der Nacken steif und schmerzend …

When you’re strange
no one remembers your name

Alles geriet ins Wanken. Schwindel, Herzrasen, Ohrenpfeifen, andauernd und quälend, eine nicht enden wollende Malaise, Übelkeit, Überreizung. Wochenlang, monatelang.

Streets are uneven
when you’re down
When you’re strange
faces come out of the rain

Ich hatte den Nullpunkt meiner Kräfte erreicht, ja überschritten, hatte die Balance verloren und „fürchtete umzufallen ». Und alles war mir fremd. Das Summen der Frachter, die Schreie der Möwen, das Hupen der Autos, die Pfiffe der Polizisten, das Quietschen der Straßenbahn, kein Geräusch, das mich früher kaum gestört, ja das mir vielleicht gefallen hätte, war mir noch erträglich. Nicht einmal die Sirenen der Dampfschiffe am Bosporus. Nicht einmal das Rufen der Muezzins.
Lärmtrunken.
Am Festland: ein Schaukeln wie auf hoher See, ich stieß überall an, stolperte über Gehsteige und Pflastersteine, mein Spiegelbild in den Schaufenstern entzweite sich und verschwamm; mein Gesicht verfremdet. Nullpunktverschiebung. Sinnestäuschung. Fragmentierte Schriften: die Buchstaben gespalten, die Striche gebrochen, die Vertikale aufgehoben. Ich hatte keine Bodenhaftung mehr, wie der junge tanzende Derwisch, der beim Kreisen um sich selbst die Verbindung zur Erde verliert, ehe seine rechte Hand im Himmel Halt findet, und dabei aus der Körperachse geworfen wird.
Schwindel also. Und ständig dieses Klopfen in der Brust, das Rasen im Kopf, das Hämmern in den Schläfen, das Pfeifen in den Ohren.

When you’re strange

Schwanken, Klopfen, Schwirren, Pfeifen.

when you’re down

Taumeln, Pochen, Schrillen, Rasseln.

Welche schmerzhafte Erinnerung, welche vergrabene Angst versuchte da an die Oberfläche meines Bewusstseins zu drängen? Um mich zu quälen oder mich zu erlösen? Istanbul, Stadt des Taumelns, Stadt des Schwindelns. Zwei weitere Jahre schwindelte ich durch die Stadt, durch das Leben, ohne die Antwort zu finden.

Jeux interdits

feuilles

Mir wurde diese Geschichte erzählt. Es soll im April des Jahres 1944 gewesen sein. Die Szene spielt sich in Castelsarrasin, in der Knabenschule des Viertels Saint-Jean ab. Ich kenne sie, ich war dort, als sie Jahre später die Schule umgetauft haben. Der überdachte Schulhof war voll halbwüchsiger Kinder, die voller Stolz ihre Recherchearbeit präsentierten. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Die Szene vom April 1944 kann ich mir also vorstellen: Die Straßen sind menschenleer. Das Wetter ist gewittrig. Im Schulhof und auf der Allee blühen die Kastanienbäume mit ihren gefingerten Blättern und ihren traubenförmigen Blütenständen. Eines der Lieblingsspiele der Buben im Frühling ist das Schleudern des Blütenschwanzes. Ihre Taschen sind voll davon. Du lädst deine Schleuder mit dem Ende der Blüte der Rosskastanie, spannst, zielst und lässt los. Wenn du dein Ziel mit großer Wucht triffst, schmerzt es sehr. Es brennt und hinterlässt eine bleibende Spur. Aber natürlich trifft kaum einer, und natürlich ist es verboten.

Im Schulhof knöcheln die Buben oder spielen noch eine letzte Partie Murmeln, bevor der Herr Direktor die Pause zu Ende pfeift. Es ist dreizehn Uhr dreißig, als ein Schrei ertönt: « Die Deutschen! », und alle Burschen wie Heuschrecken zur Mauer laufen. Alle wollen sehen, die Kleinsten auf den Zehenspitzen in ihren schweren Holzschuhen, aber nur die Größeren schaffen es, auf die Mauer zu klettern. In gleichmäßigem Tempo hallen die Pferdehufe auf dem Asphalt des Boulevards. Ein Wehrmachtsoberst und drei Offiziere reiten in ihren geschniegelten Uniformen auf die Allee zu ihrer täglichen Übung. Eine schöne Parade für die Kinder. Aber plötzlich hebt der Oberst die rechte Hand zum Herzen und stößt einen Schrei aus. Die Offiziere verstecken ihn, aber es ist nicht zu übersehen, dass der Oberst vor Wut platzt. Sein Gesicht ist rot und aufgeschwollen. Er steigt vom Pferde und schreitet zum Schultor. Die Kinder haben sich inzwischen zerstreut, so schnell wie sie gekommen waren. Denn alle haben verstanden, was vorgefallen ist. Der Oberst fordert den Schuldirektor auf, die ganze Schule unter dem überdachten Schulhof zu versammeln. Der ist wütend. Der schreit. Ein Offizier übersetzt: « Wer hat das Projektil geschleudert? » Der Direktor weiß, dass alle Kinder eine Schleuder in ihrer linken Tasche verstecken und dass ihre rechten voll Kastanienblüten sind. Aber niemand stellt sich, niemand petzt. Der Oberst fordert einen Schuldigen, ansonsten werden ein Lehrer und der Direktor in der Kaserne verhört. Der Oberst platzt vor Wut. Sein Gesicht ist rot und aufgeschwollen. Keiner stellt sich, keiner petzt.

Die zwei Lehrer werden zur Kaserne geführt und erst am späten Abend wieder freigelassen. Die Geschichte erzählt nicht, wer die Kastanienblüte geschossen hatte.

On m’a raconté cette histoire. Cela se serait passé en avril 1944. La scène se déroule à Castelsarrasin, à l’école de garçons du quartier Saint-Jean. Je la connais pour y être allée des années après, quand elle a été rebaptisée. Le préau de l’école, ce jour-là, grouillait d’enfants fiers de présenter le résultat de leurs recherches. Mais c’est encore une autre histoire. La scène du mois d’avril 1944, je l’imagine comme cela : rues désertes, le temps est à l’orage. Dans la cour de l’école et sur les allées, les marronniers aux feuilles digitées sont en fleurs. Au printemps, les garçons adorent jouer avec l’inflorescence qu’on appelle ici la moussègue. Leurs poches en sont pleines. Tu mets la moussègue dans ta fronde, tu vises et tu lâches. Si tu atteins ta cible, il paraît que c’est très douloureux. Ca brûle et ça laisse longtemps une trace. Mais bien sûr, c’est dur de bien viser, et bien sûr, c’est interdit !

Dans la cour, les garçons jouent aux osselets ou aux billes avant que le directeur ne siffle la fin de la récré. Il est treize heures trente quand un cri retentit : »Les Allemands ! » Aussitôt, tous les enfants bondissent vers le mur de l’école comme des sauterelles, pour voir passer les Allemands. Les petits sur la pointe des pieds dans leurs lourds sabots, mais seuls les plus grands parviennent à grimper sur le mur. Les sabots des chevaux résonnent sur l’asphalte du boulevard. Un colonel de la Wehrmacht et trois officiers font leur exercice quotidien sur le boulevard dans leurs uniformes tirés à quatre épingles. Belle parade pour les enfants. Mais tout à coup, le colonel porte la main droite à son cœur et pousse un cri. Les officiers le couvrent, mais on voit quand même que le colonel étouffe de colère. Il a le visage tout rouge et gonflé. Il descend alors de cheval et se dirige tout droit vers le portail de l’école. Les enfants se sont dispersés, aussi vite qu’ils étaient venus. Car tous ont compris. Le colonel exige du directeur qu’il rassemble toute l’école sous le préau. Il est fou de colère. Il crie. Un des officiers traduit : « Qui a lancé le projectile ? ». Le directeur sait que tous les enfants ont une fronde dans leur poche gauche et que la droite est pleine de moussègues. Mais personne ne se dénonce, personne ne moucharde. Le colonel veut un coupable, sans quoi le directeur et un professeur seront emmenés à la caserne pour y être interrogés. Le colonel est toujours rouge de colère. Mais personne ne se dénonce, personne ne moucharde.

Les deux enseignants ont été conduits à la caserne pour n’en ressortir que tard dans la soirée, indemnes. Mais l’histoire ne dit pas qui avait tiré la moussègue.

 

« 111 »

traduction de poèmes d’Arnold Schmidt extraits de « 111 » (* Traduits et publiés avec l’autorisation de © Privatstiftung – Künstler aus Gugging) *

(1)

Je suis tous les Arnolds, même Madame Arnold.

(2)

Être tout, consciemment, c’est être ce qu’on est.
Et c’est la conscience de l’autre de ne pas être
ce que la conscience n’est pas.

(19)

Poème
C’est beau, le premier jour de la vie.

(20)

Les intervalles me jouent des tours. Le 2e intervalle – perdu la pensée ; puis repensée.

(21)

Le béton m’est tombé dans la tête, le béton.

(31)

Gugging a 100 ans

Le premier jour à Gugging.
100 ans.
Centenaire aujourd’hui.
Gugging fête son anniversaire.
100 ans.
À Gugging, il y a de grandes peurs.
La folie des grandeurs du patient grandit de jour en jour.
Mais la vie continue, en chapeau melon et bottes de pluie.
Les tueurs à la ronde ne pensent qu’à tuer.
Égorger. Couteau planté dans la poitrine.
J’ai dormi dans mon lit, 100 ans.
La Belle au bois aussi, 1000 ans,
puis le prince l’a libérée.

Je passerai sans doute les 100 années suivantes dans un lit à barreaux. Premiers pas dans un parc de bébé, à barreaux.
Que veut dire Gugging ?

Gugging veut dire guérir.

(41)

Je suis complètement toqué, parce qu’une mouche m’est rentrée dans l’œil gauche, puis l’oreille gauche ; et puis elle a fini dans mon cerveau. Pour y faire naître la maladie.

(49)

Chers parents !
Sincères salutations de votre fils, Bruce. Je m’appelle Lee et je viens de Chine. Je suis maître de kung-fu, mon métier, c’est philosophe. Je veux être infirmier. Je viens d’Espagne. L’Espagne est une terre inconnue.

Je te salue
Bruce Lee

(65)

Garçon de courses
Porter des messages en courant, pour les infirmiers.
Puis redevenir patient, ce qu’on est vraiment.

(67)

La bière de la perle de l’aéroport de Vienne part en Australie.

(72)

Vous me prenez toutes les naissances que j’ai dans la tête, avec vos piqûres. Vous êtes des repoussoirs. Moi, je ne suis pas un repoussoir. Vous m’injectez la schizophrénie avec vos piqûres, et après vous dites que je suis schizophrène.
Vous me bombardez le crâne, la calotte crânienne, vous me la bombardez. À coup de piqûres vous m’enlevez toutes les naissances – vous voulez me prendre toutes les naissances. Vous êtes dégoûtants !

(105)

La nausée

la nausée de l’usé saute dans l’herbe, et l’herbe broute le gazon. Le gazon vole et gaze la tondeuse-à-usé du conducteur de la machine. L’usé recrée tout, crée au-delà du gazon de l’usé. Selon l’usage, c’est encore l’usé. Nous sautons au-dessus du gazon avec une machine.

(106)

L’hiver, l’été, l’automne, le printemps,
La neige, le soleil, la lune, l’oasis –
et quoi d’autre ?
Le ciel, l’horizon, les pierres,
Pierres de lune et poussière de lune.
Mars, la station lunaire –
et quoi d’autre ?
Pluton, l’âme, le corps,
Les plantes, l’esprit –
et quoi d’autre ?
La tête, le cerveau, les fronts,
La psyché, la pfiché (le corps),
L’âme du corps, les mains, les pieds, les ongles –
et puis c’est tout.

(107)

Devoir

Aujourd’hui
j’écris
un poème
sur l’amour.

L’amour est l’amour
de l’amour de tous
les temps.

C’était le temps
de tous
les temps.
C’était
le poème.

(108)

Tu as tous les corps et j’ai tous les corps. Nous ne nous repoussons pas. Tu as la force première et aussi la dernière.

(109)

Le soleil, la lune, la terre,
La planète, mars, les mondes astrals ;
L’auto, l’OVNI, les sphères ;
Les nuits, nuits de mars, nuits de lune ;
Le bonheur, le travail, aller au travail.

Aujourd’hui, nous allons à la vie.

(110)

Le savoir ne cesse jamais

(111)

* Né en 1959 à Wiener Neustadt (Basse-Autriche), le jeune artiste Arnold Schmidt est invité en 1986 par la Maison des Artistes de Gugging. C’est là que vit et travaille aujourd’hui encore « Andi ». En 1999 paraît son recueil de poèmes 111 (éditions minimal, Vienne), transcrits par Otmar Schmid. En 2007, Christian Diendorfer met certains d’entre eux en musique (Lieder nach Texten von Ernst Herbeck und Arnold Schmidt für Männerstimme und Ensemble).

 

Lacrimosa

(texte paru dans/erschienen in Words & Worlds / Worte & Welten, eine bilinguale Zeitschrift für Migrantinnenliteratur, 2019)

(français)

Des mains gantées de blanc ont soulevé du lit son corps léger. Dans la pénombre, on aurait dit qu’il flottait. Le visage blême comme de la cire refroidie, le costume bien trop grand. Puis ils ont porté le lourd cercueil aux poignées ornées de fioritures dans le corbillard, et toutes les voitures sont parties dans un long convoi vers le crématorium. Trajet interminable sous le soleil de novembre. Personne ne parlait. On regardait le paysage, les vignes d’automne et les allées de platanes qui bordent la route. Les yeux, sans maquillage, gonflés et rougis d’avoir tant pleuré pendant la messe, et après, sur le parvis de l’église, les efforts pour étouffer un sanglot et dire, après chaque mot de condoléances : « Merci d’être venus… »

L’établissement est à l’écart de la ville, vaste et spacieux, avec d’immenses parkings, comme un cinéma drive-in ou un parc d’attractions. On nous a emmenés dans une salle pompeuse, décorée comme une chapelle moderne. Le cercueil s’y trouvait déjà, drapé d’un tissu solennel. De grandes fenêtres avec des rideaux à fleurs. Aux murs des photos : soleil couchant, ciel de nuages, champ de pavots. Ils jouaient le Requiem de Mozart. Sempiternel Requiem, déchu au rang de musique de supermarché. Trop de kitsch, trop de lumière. Lux aeterna. Personne ne se regardait, les minutes duraient une éternité. Et devant, le cercueil. Par les fenêtres hautes on pouvait voir le ciel, si bleu. Dans l’épaisseur du double vitrage, l’air chaud vibrait, faisant des motifs comme à la surface d’un étang quand on fait des ricochets. Recueillement, prières, minutes de silence. Rien de tout cela. Plus de cris non plus. Mais des pleurs et des sanglots. Simplement ces sanglots sonores. Le mouchoir détrempé. Puis, ils sont venus chercher le cercueil et ont allumé une télévision. Sur l’écran, on a vu s’ouvrir deux portes d’acier rutilantes et le cercueil, que l’on reconnaissait à ses poignées imposantes, disparaître dans les flammes. Violence théâtrale. Il faisait chaud, ils jouaient encore le Requiem, mais le cercueil n’était plus là. C’est alors que l’écran a eu un raté, ou bien était-ce la fin ? On ne voyait plus que de la neige sur le fond noir de l’écran. Effroi et certitude que tout était fini. Redevenu poussière. Requiescat in pace. Un des hommes gantés de blanc est entré, à pas lents, a éteint la télé et nous a priés de sortir. Les invités se sont dispersés dans les parterres de fleurs, sur le parking, dans les allées du cimetière. On a remis à ma grand-mère une urne qu’elle pouvait à peine porter. Une dernière fois elle a crié son nom. Et tout le chemin du retour, elle a serré contre elle ce qu’il restait de lui. Tout n’est que poussière.

(Deutsch)

Weiße Handschuhe haben den leichten Körper vom Bett in den Sarg gehoben. Im Halbschatten war es, als ob er schweben würde, das Gesicht bleich wie kaltes Wachs, der Anzug viel zu groß. Dann den schweren Sarg mit den verschnörkelten Griffen in den Leichenwagen, und alle Autos sind weggefahren, in einem langen Konvoy. Lang hat die Fahrt gedauert bis zum Krematorium, unter der strahlenden Novembersonne. Wir saßen wortlos, schauten die Landschaft an, die herbstlichen Weinberge, die Platanen die Straße entlang. Die Augen, ungeschminkt, aufgeschwollen und gerötet, vom vielen Weinen während der Totenmesse und dann, auf dem Kirchenvorplatz, nach jedem Beileidswort gerade noch schluchzen können: „Danke dass ihr gekommen seid…“

Die Anlage liegt abseits der Stadt, großzügig gestaltet, mit Riesenparkplatz, wie ein Autokino oder ein Vergnügungszentrum. Sie haben uns in einen Raum geführt, einer modernen Kapelle nachempfunden, der Sarg stand schon da, in ein feierliches Tuch gehüllt. Große Fenster mit blumigen Vorhängen. Fotos an der Wand: Sonnenuntergang, Wolkenhimmel, Mohnblumenwiese, blutrot. Sie spielten das Requiem von Mozart. Ewiges Requiem, zu Supermarktmusik verkommen. Zuviel des Kitsches, zu viel des Lichtes. Lux aeterna. Niemand schaute sich an, die Minuten dauerten eine Ewigkeit, der Sarg stand da. Aus den hohen Fenstern konnte man den Himmel sehen, so blau. Zwischen den zwei Glasscheiben flimmerte die heiße Luft und zeichnete dabei Muster wie die Oberfläche eines Teiches beim Steineklatschen. Sammlung, Andacht, Gedenken, Gebete. Nichts von all dem. Es wurde geweint, geschluchzt. Es gab keine Schreie mehr. Nur noch dieses laute Schluchzen. Das Taschentuch durchnässt. Dann haben sie den Sarg geholt und den Bildschirm eingeschaltet. Man sah, wie zwei glänzende Stahltüren sich öffneten und wie der Sarg, man konnte ihn an den pompösen Griffen genau erkennen, in tanzende Flammen hineingeschoben wurde. Theatralische Gewalt. Es wurde heiß, sie spielten noch immer das Requiem, der Sarg stand nicht mehr da. Und dann hatte der Bildschirm einen Aussetzer, oder es war das Ende. Da sah man nur noch weißes Flimmern auf schwarzem Hintergrund. Entsetzen, Furcht, Gewissheit, dass es endgültig vorbei war. Alles wieder zu Staub. Requiescat in pace. Einer der Männer mit weißen Handschuhen kam herein, schaltete den Fernseher aus und bat uns hinauszugehen. Die Gäste zerstreuten sich zwischen die Blumenbeete, auf den Parkplatz, in die Friedhofsalleen. Meiner Großmutter wurde eine wuchtige Urne in die Arme gedrückt, die sie kaum tragen konnte. Sie schrie noch einmal seinen Namen. Und fuhr die ganze Strecke zurück, mit der Urne auf dem Schoß. Alles ist von Staub gemacht.

Last painting

Auslöschen der Lampe im Morgenlicht. Im Halbschatten der Morgendämmerung haben sie sie gebadet und sie in einen weißen Sari gehüllt. Ein Kaschmirschal, rotes Zinnober-Pulver im Scheitel ihres Haars. Ihre Lider Rosen gleich, ihre Brauen geschwungen wie ein Bogen. Im Rot der aufgehenden Sonne haben liebende Hände ihren Leichnam getragen, an der Badshahi Moschee und am Fort vorbei, bis zu den Ufern des Flusses Ravi. Bei jedem Schritt das Klirren ihrer Armreifen.
Hier sind keine steinernen Ghâts, die zum Wasser hinführen, nur die sandigen Ufer. Der Fluss ist breit und ruhig. Es ist Winter, es ist Ebbe. Ein Sonntag im Dezember. Frühwind. Die Kräuselungen des Wassers wiegen die ersten Fischerboote und silbrig glänzende Lotusblätter. Ein streunender Hund, weidende Büffel, schwärmende Vögel. Ein Yogi sitzt halbnackt vor dieser Flusslandschaft. Sein langes verworrenes Haar ist mit Asche bedeckt.
Der Scheiterhaufen liegt bereit, das Holz geschichtet, und eine Bahre aus Bambus. Amrita wird draufgelegt. Freunde haben Blumen gebracht: Jasmin und Ringelblumen. Blüten und Flugsandel werden verstreut und mit Gheebutter benetzt. Ihr Vater macht den Ritus. Der alte Löwe, weißer Mähnenbart, still wie der Fluss, sein schwarzer Blick getrübt, entzündet den Scheiterhaufen und singt den Kirtan Soliha: Räucherwerk ist der Wind, der mit kühlem Duft von Süden weht …

Bald züngelt Rauch, das Feuer lodert, die Flammen brennen lichterloh. Karminrot, Krapprot, Indienrot. Nun ist Schweigen. Nur noch das Knistern des Feuers und das Schluchzen der Mutter. Ihr schwarzes Kleid weht in der leichten Brise. Sprühende Funken steigen in den Himmel, die Blumenblüten flattern auf, farbenprächtig. Und in der Stille der Glut vernehmen wir das Knacken des berstenden Schädels.
Ein paar Tage später wurde ihre Asche eingesammelt und im kühlen Silberschein des Mondes in den Fluss gestreut.
Schöne Tage,
nicht weinen, wenn sie vergangen,
sondern lachen, dass sie gewesen.
Seit dem 5. Dezember 1941 warten vier schwarze Büffel auf ihren letzten Pinselstrich.
Last painting.

Cimetière marin

C’est un soir de septembre sur une plage de la presqu’île de Gelibolu, entre Égée et mer de Marmara. J’ai ramassé quelques trésors, des bois flottés, des éclats de marbre vert, rose, blanc et rouge. La chaleur blessante du soleil a laissé place à la caresse du vent. La mer changée, tout à l’heure bleue et vert d’émeraude, est devenue dorée, là où les bancs de sable affleurent la surface. Beauté inégalable de la nature : en lisière des bosquets, la côte creusée à blanc, racines nues des pins maritimes, plantes des dunes ployant au vent, plaques de schiste où de petits bassins retiennent des croûtes de sel, velours du sable, et, livrés au ressac, des blocs énormes de rochers lustrés par la mer. On croirait des animaux marins échoués, des corps de femmes endormies, rondeurs polies par les vagues, brunies, roussies, alanguies, la tête posée sur un bras recourbé, les vagues caressantes dans le creux de l’épaule.
Pas un bateau, pas un cargo. Ici, pas de moteur ni de bruit de la ville. Pas même un chant de muezzin. Un drapeau blanc claque dans le vent.
Dans l’écume frisée marche un vieux couple sur un banc de sable. Encore vêtus de leur lin blanc. Je les ai vus tout à l’heure marcher le long de la plage. Troublante image que ces corps usés, cassés, aux gestes lents, qui semblent s’éloigner déjà vers un ailleurs amer et sombre, m’abandonnant à la vie.

C’était une nuit du mois d’août sur cette plage de la presqu’île de Gallipoli. Ils venaient d’Australie, de France et d’Angleterre. Ils s’appelaient Alec, Timothy ou William. Certains avaient tout juste seize ans et n’avaient jamais voyagé.
À peine jaillis des vagues, ils sont tombés sous la mitraille. Et au matin, la dune dévastée, les arbres calcinés, la mer teintée de sang, des crânes éclatés dans les cratères des bombes, des corps morts rejetés dans les trous des tranchées, le sable dans les plaies, ou livrés au ressac, les vagues caressantes dans le creux de l’épaule.
Tant de morts, sur cette même plage.
Ils s’appelaient Adil, Mustapha ou Sahin.
On dit qu’ils reposent en paix en terre ottomane, loin des cloches d’église et du chant de muezzin.
Ces héros oubliés d’une guerre oubliée, dit la chanson.
Entre les pins, entre les tombes, dit le poème.

[La bataille de Gallipoli, aussi appelée bataille des Dardanelles, a duré du mois d’avril 1915 à janvier 1916 et a coûté la vie à près de 90 000 soldats turcs et à 50 000 chez les Alliés]

 

 

Wenn ich an Istanbul denke

[anlässlich des 1. Irene Harand Literaturpreises, 2. Platz, 2019]

Istanbulu dinliyorum,
gözlerim kapalı…  [Orhan Veli]

Wenn ich an Istanbul denke,
denke ich an meine Schifffahrten mit dem vapur zum Fischmarkt Üsküdars,
ich spüre den Sommerwind, der wie eine Berührung
durch meine Finger weht
und sehe über dem Bosporus
die mattgewordene Sonne, die den Himmel golden färbt.

Wenn ich an Istanbul denke,
und meine Augenlider senke,
wie im Gedicht von Orhan Veli,
höre ich das Klatschen der Wellen,
die Stimmen der Stadt, ja, ich höre
das Hupen der Autos und das Lachen der Möwen,
das Klirren der Teegläser,
und weit, weit weg,
von den Hügeln Asiens anschwellend,
den ersten Ruf zum Zuhrgebet.

Oder ich höre « Action ! »,
Dreharbeiten bei der Camondotreppe, Aussen, Tag,
und die lachenden Schüler des Sankt-Georg Kollegs in ihren Uniformen, die vom dritten Stockwerk zum Filmteam runter winken.

Ich erinnere mich auch an diese frechen Bengeln mit sonngebräunter Haut und strahlendem Lächeln,
die neben den Fischern das Brückengeländer erklimmen,
um in die Wirbelströmung des Goldenen Horns zu springen.
Ich rieche das Treiböl und den heißen Asphalt.

Wenn ich an Istanbul denke,
sehe ich die Bosporusbrücke, erleuchtet nachts
wie ein Casino von Las Vegas,
das die Farben ständig wechselt,
mal rot, mal blau, mal violett.
Und wenn später der Mond sich im Meer silbern spiegelt,
weiß ich den Namen noch des Wassers wie versiegelt:
Yakamoz heißt das Wort für das Phosphoreszieren.

Wenn ich an Istanbul denke,
schmecke ich auch die Weinblätter und das Tahinıbrot,
die uns in Kuzguncuk am asiatischen Ufer
drei Schwestern geschenkt hatten,
nachdem der Muezzin vier Mal gerufen hatte,
und ich rieche den Kimyon, den Zimt, den Kardamom.

Wenn ich an Istanbul denke,
höre ich noch durch mein Fenster am Ende der Sackgasse
das Echo fröhlicher Kinderspiele,
Wurfkreisel, Ball im Käfig, Kantenspringen oder Gänsedieb.
Ich rieche den Feigenbaum und den Duft nach Jasmin,
Rose und Rosmarin.
Und ich erinnere mich an diese Silbertaube,
die mich manchmal besuchte,
das Rascheln ihrer Flügel und ihr vertrautes Gurren,
da, auf dem Fenstersims, fast wie ein Katzenschnurren.

Wenn ich an Istanbul denke,
denke ich an Gezi Park
und höre die ersten Takte des İstiklâl Marşı,
ich sehe die Graffitis çapulcu, Erdo-gone!
Keine Sorge, Mama, ich bin nur im Schlepptau.
Ich sehe duran adam, passiver Widerstand,
und eine Frau in Rot, Sommerkleid und Tote Bag,
Symbol für diesen Kampf, ihr Name ist Ceyda.

Wir tragen Taucherbrillen, manche eine Guy-Fawkes-Maske,
wir skandieren direm, Widerstand, résistance
und klopfen auf Kochtöpfe mit kaputten Holzlöffeln.

Wenn ich an Istanbul denke,
höre ich die Hubschrauber über dem Taksim Platz
und rieche das Tränengas.
Ich sehe die Gesichter mit den verätzten Augen,
die Gasgranatenschwaden über den Barrikaden,
und ein Panzerfahrzeug, das seine Gasgranate
schießt
bis in den Innenhof des deutschen Krankenhauses.
Ich weiß noch die Kopfschüsse,
Platzwunden,
Schädeltrauma,
und die verbrannten Hände durch Tränengaspatronen,
ich höre noch die Schreie,
ich spüre noch die Angst,
ich schmecke noch in der Kehle das Brennen des Biber Gazı.

Wenn ich an Istanbul denke,
sehne ich mich nach dem Wind,
der wie eine Berührung durch meine Finger weht.