J’ai vu le parc…

(traduction libre du poème d’Egon Schiele « Ich sah den Park »)

J’ai vu le parc : vert-jaune, vert-bleu, vert-rouge,
vert-prune, vert-soleil et vert-tremble,
et écouté les orangers en fleurs.
Puis, adossé au mur courbe du parc,
j’ai écouté les enfants aux noeuds roses et semelles de vent,
tout mouchetés de bleu et zébrés de poussière.
Les arbres obélisques s’élançaient vers le ciel
puis s’assirent par terre voluptueusement.
J’ai repensé à mes visions de portraits aux mille couleurs
et j’ai cru un instant
que j’avais conversé
avec chacun d’entre eux.

Yakamoz

Di-ren! Di-ren!
Paul marschiert mit gehobener Faust und skandiert mit der Menge:
Di-ren! Di-ren!
Ich eifere meinem kleinen Bruder nach. Sara sieht mich verwundert an, ich nehme ihre Hand, hebe sie in die Luft, dann, leicht zeitverzögert, skandiert sie mit:
Di-ren! Di-ren!
Wir marschieren die Sıraselviler Caddesi in Richtung Taksim-Platz, wo die gepanzerten Fahrzeuge den Zutritt zum Gezi-Park versperren. Die vorderen Reihen tragen Gasmasken und ein großes Transparent mit dem Spruch Boyun eğme, „beugt euch nicht“. Wir haben bloß Bandanatücher um den Hals, die wir im Fall einer Gasattacke um Nase und Mund hochziehen könnten. Menschen strömen von allen Seitengassen, Soğancı, Hocazade, Liva Sokağı, einzelne Demonstrierende verstecken ihr Gesicht hinter einer Taucherbrille oder einer Guy-Fawkes-Maske, manche halten Kartons mit politischen Slogans. Ich erkenne ein paar der humoristischen Sprüche, die ich auf Graffitiwänden fotografiert habe und die mir Paul erklärt hat: „Keine Sorge Mama, ich bin nur im Schlepptau“, Çapulcu oder Erdo-gone! Unentwegt fliegen Hubschrauber über unsere Köpfe, vermutlich dieselben, die abends Tränengas über die Gassen abwerfen. Aus einem tragbaren Gerät erschallen die ersten Takte des İstiklâl Marşı, der Nationalhymne, weiter hinten singt eine Gruppe Bella Ciao. Die Gesänge vermischen sich O bella, ciao! bella, ciao! bella, ciao, ciao, ciao … Korkma, sönmez bu şafaklarda … E questo è il fiore del partigiano, morto per la libertà! und gehen im Tumult der Trillerpfeifen und der Trommeln unter. Wir hören jetzt auch auf Deutsch und Französisch rufen und greifen es auf:
– Résistance! Résistance! Widerstand!
Wir kommen der Straßensperre der Hundertschaft immer näher. Die Lage ist angespannt, aber die Stimmung fröhlich. Beim Vorbeigehen am Haupteingang des deutschen Krankenhauses sehen wir im Innenhof rauchendes und kaffeetrinkendes Personal, das uns unterstützende Rufe zuwirft. Einige begleiten uns durch Klopfen auf Kochtöpfen. Eine Krankenpflegerin reicht mir ihre schon ramponierte Kasserolle und ihren Holzlöffel. Ich übernehme das schnelle Schlagen im Rhythmus meines Skandierens:
– Ré-sis-tance! Ré-sis-tance! Wi-der-stand!
Paul scherzt:
– Kurs halten, auf die Hook!
– Résistance! Résistance!
Ich denke wieder an Michel Piccoli beim Lichtermeer in Wien vor zwanzig Jahren, an unsere Demo „für die Geburt eines neuen Österreich“, an seine Worte: „Wir sind nicht die Widerstandskämpfer der Vergangenheit … seien wir die Kämpfer der Zukunft. Résistance! Widerstand! Freiheit für alle!“

Wir sind jetzt oben am Ende der Straße angekommen, sehr nah an der Sperre am Eingang des Taksim-Platzes, können aber nicht mehr vorwärts. Und auch nicht zurück. Wir stehen eng aneinander, wie zusammengewachsen. Kämpfer und Kämpferinnen der Zukunft! Gaspatronen fliegen in einem hohen Zischen durch die Luft, fallen auf die Gehsteige und streuen Tränengas. Ein junger Mann versucht, ein Geschoss zu packen, um es in Richtung der beschirmten Sondertruppen zurückzuwerfen, verbrennt sich die Hand; einem von den Demo-Anführern, mit Handschuhen und Gasmaske ausgestattet, gelingt es. Durch ein Megafon ertönen weitere Parolen der Demonstrierenden, die von den Warnsignalen, den Gaspatronenschüssen und von den Hubschraubern überstimmt werden.
Ich fühle mich am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Die Sonne scheint. Istanbul zeigt sich für Touristen von seiner besten Seite. Und wir sind Teil einer gewaltigen Aktion der Solidarität. Es gibt mir das Gefühl, wieder zwanzig zu sein. Unbekümmert und hoffnungsfroh. Es ist ein wunderschöner Junitag des Jahres 2013. Wir wissen sehr wohl, dass wir den Gezi-Park vor Erdoğans Bauplänen nicht retten werden, aber der Einsatz ist es trotzdem wert. In mir kommen Erinnerungen an meine Jugend hoch, als ich zur Gitarrenbegleitung meinem Großvater die Chansons Le Déserteur von Boris Vian und Nuit et Brouillard von Jean Ferrat vorsang, als ich mit meinen Eltern gegen den Ausbau einer Militärbasis im Larzac oder für eine sozialistische Regierung demonstrierte, oder wie ich als Studentin in Toulouse gegen Rassismus auf die Straße ging, später gegen die Unireform des Ministers Devaquet.
Unsere Sprüche habe ich nicht vergessen:
Gardarèm lo Larzac!
Mitterand, président!
68 c’est trop vieux, 86 c’est mieux!
Devaquet va craquer!
Wir boykottierten die Ananasdosen aus Südafrika und die Datteln aus Jericho, schauten im TV die Konzerte von Band Aid und S.O.S. Racisme, kauften die Schallplatten der Restos du Cœur, sangen We are the World, Douce France und Un autre Monde und unterstützten die Studenten vom Tian’anmen-Platz mit Übersetzungen für Amnesty International.

Unser Demozug hat sich noch mehr verdichtet. Alles steht. Zwei Welten prallen aneinander: behelmten Polizisten in Erdoğans Sold und eine friedliche freiheitshungrige Menge. Es wirkt mittlerweile beängstigend. Trotzdem sind wir weiter euphorisch und glauben an der Sache. Paul sieht aus wie der kleine Gavroche auf dem Gemälde von Delacroix. Nur dass er nicht bewaffnet ist. Und fast dreißig! Ach Paul! Kleiner Bruder, was für einen Weg du zurückgelegt hast! Jetzt kann man wohl sagen, dass du dein eigenes Boot führst! Als du dich voriges Jahr beim Ministerium für diese Stelle am Sankt-Georgs-Kolleg in Istanbul beworben hast, habe ich auch gewusst, dass du damit nicht das feine Leben der Expats mit ihren Cocktails und After-Work-Whiskys anpeiltest, sondern deine Begabung als Vermittler nützen wolltest, ich weiß, dass du ein Mensch bist, der sein Leben lang, wie Gavroche, Minderheiten unterstützen und gegen Ungerechtigkeit kämpfen wird. Unsere Gesellschaft braucht einfach mehr Menschen wie dich!
– Diren! Résiste!
– Résistance! Widerstand!
Plötzlich fallen Schüsse, ein TOMA-Fahrzeug besprengt die Menge mit seinem säurehaltigen Wasserregen, und ein Kampfpanzer, „Skorpion“ genannt, setzt sich in Bewegung in unsere Richtung. Schreie, Getrampel, Gedränge.
– Run, run!, schreit jemand und packt uns an den Ärmeln.
– Yalla! Zurück!, brüllt Paul, zum Krankenhaus!
Uns ergreift die Panik. Wir trampeln, stocken, stolpern. Laufen. Zurück zum deutschen Krankenhaus. Ich habe Saras Hand verloren, meine Augen brennen, ich spüre das Tränengas in der Kehle, in der Nase, jemand hilft mir, ich weiß nicht wer, den Weg zum Innenhof zu finden, ich höre Paul sagen:
– Hier sind wir safe!
Jemand spült meine Augen mit einer Flüssigkeit aus einer kleinen Mineralwasserflasche und erklärt mir auf Englisch:
– It’s only milk and water.
Das Brennen lässt nach. Ich kann wieder sehen. Wir alle sitzen oder hocken auf dem Boden, es gibt verbrannte Hände, verätzte Augen, alle husten, keuschen, ersticken fast. Das Dröhnen der Sonderfahrzeuge wird immer lauter, Bilder aus Kriegsfilmen drängen sich auf, als plötzlich ein Panzer vor dem Haupteingang des Krankenhauses hält, seine Kanone auf uns richtet und eine Ladung Gas in den Innenhof hineinschießt. Mit letzter Kraft stürzen wir zum Seitenausgang und flüchten durch die Soğancı Sokağı bis zum Cihangir Platz, wo wir Zuflucht in einem Café finden.
Der Besitzer ist schon dabei, die Glasschiebetüren der Terrasse zu schließen. Er kündigt eine Runde Bier für alle an. Wir sind vielleicht fünfzig in diesem Glashaus. Manche sitzen direkt auf dem Boden, verschwitzt, aufgewühlt, andere liegen auf Tischen, ihre Augen und Atemwege werden von einer Ärztin versorgt. Blutdruck wird gemessen. Eine Platzwunde wird genäht. Aber schon wieder wird gelacht und gescherzt. Viele machen Selfies ihrer mit der schaumigen Augenspülung verschmierten Gesichter. Auch Sara und ich bekommen einen Lachanfall, als uns bewusst wird, welche Gefahren wir auf uns genommen haben. Kindsköpfe! Wir wischen uns das Gesicht mit unseren Bandanatüchern, wir haben Staub und Dreck überall, mein T-Shirt ist halb zerrissen, mein Holzlöffel besteht nur noch aus dem Griff, und ich habe den Kochtopf unterwegs verloren!
Im Hintergrund läuft Zaz, wie in allen Cafés und Bars Istanbuls in diesem Sommer, Je veux d’l’amour, d’la joie, de la bonne humeur, das kleine Café wird zu einem Babel der Freude und der Stimmen: Evet! Mashallah! Alles Gut! Et j’suis comme ça, papalapapapala! Every think okay? Tamam! Tout va bien! Dis donc, on a eu chaud! Die Gläser werden in die Höhe gehoben, und unisono wird auf die Gesundheit Erdoğans geprostet in Anspielung auf sein neues Gesetz gegen den Ausschank von Alkohol:
– Şerefine Tayyip! Şerefine!

Wir haben nicht mehr weit zur Wohnung meines Bruders. Wir müssen uns nur aufraffen. Wir werden alle drei duschen, die Fenster zum Bosporus hin weit öffnen, um die Abendbrise reinzulassen, Paul wird uns sicher einen erfrischenden Salat zaubern, und wir werden mit Rakı auf den Tag anstoßen und chillen – wie er sagt –, wartend auf einundzwanzig Uhr, wo wir wieder mit den Einwohnern der Stadt als Zeichen der Solidarität durch die Fenstergitter mit Löffeln auf Kochtöpfen zu klopfen beginnen werden.

Das Café hat sich ein wenig geleert. Jetzt läuft Manu Chao. Sara und ich singen mit: Perdido en el corazón de la grande Babylon, Eiswürfel klirren in den Rakı-Gläsern, me dicen „el clandestino“ por no llevar papel …
Paul schaut mich an, er hat Tränen in den Augen. Ich frage:
– Alles okay?
Und mein Brüderchen antwortet mit einem Lachen:
– Klar Deck überall!

Halb elf in einer Sommernacht

Sie weiß noch, sagt sie. Die Kindheit. Jedes Mal wird sie an die Kindheit erinnert. Jedes Mal, wenn sie ein Paket geliefert bekommt, seit sie da ist, die Krankheit. Sie sagt es dem Jungen mit den schwarzen Haaren. Den schwarzen Locken. Es ist die Erinnerung an die Pakete ihrer Kindheit, im Mädchen-Internat, damals, in den fünfziger Jahren. Zuerst muss sie in ein Halbinternat, im neunzehnten Wiener Bezirk. Bei den Schwestern vom armen Kinde Jesu. Das versteht der Junge nicht. Mit zehn dann ins richtige Internat, es heißt „Bundeserziehungsanstalt“. Sie darf nur alle zwei Wochen nach Hause. Deswegen schickt der Vater Essenspakete, die sie in ihrem Kasten hinter der Wäsche versteckt. Kekse und Schokolade, die sie nachts mit den Freundinnen teilt. Bei der Kastenkontrolle wird alles ausgeräumt, herausgeschmissen, das Essen wird von den Schwestern einkassiert. In der Unterstufe fürchten sich die Mädchen auch vor den Großen aus der Oberstufe. Sie werden tyrannisiert.
Es war in der ersten Klasse geschehen. Als sie sechseinhalb war. Die Mutter war gestorben. Die Mutter, die geliebte Mutter. Sie erzählt dem Jungen, dass der Vater sie einmal zu Fasching als Teufel verkleidet. Sie schreibt es in einem Schulaufsatz. Die Schwestern, die Nonnen, finden das nicht lustig. Als Kommentar schreiben sie nur „sehr traurig“.
Dem Jungen erzählt sie noch: Der Vater ist Kunstmaler und Werbegrafiker. Damals. Zeichnet österreichische Geschichte. Auftragswerke. Nicht signiert. Vor dem Krieg noch, Ständestaat, Dollfuß-Plakate, Ermordung des Bundeskanzlers, Porträt, dann Totenmaske. „Österreich über alles“. Sie spricht „Austrofaschismus“ und „Vaterländische Front“. Affiche mit Kurt Schuschnigg für eine Volksbefragung im März 1938. Dann aber Einmarsch der deutschen Truppen. Anschluss. Deportation. Für Schuschnigg. Nicht den Vater. Dachau, dann Sachsenhausen, aber als „Schutzhäftling“.
Der Junge aus Afghanistan versteht das alles nicht.
Sie sagt: „Das musst du nicht verstehen“. Nur dass der Vater auch zur Wehrmacht muss. Zu der deutschen Wehrmacht. Kriegseinsatz. Trotz Heirat und Aufträge. Sowjetische Gefangenschaft. Nach dem Krieg, noch zwei Jahre. Er malt Porträts und wird deswegen gut behandelt. Bei einer Überführung von Litauen nach Schweden wird die Fähre bombardiert. Viele Tote. Leichen im Wasser, ertrunken und verbrannt. Der Papa kommt ins Spital. Zeichnet weiter Porträts. Von Kranken und von Pflegern. Von Iduna und Nils. Sie zeigt dem Jungen die Porträts von Nils und Iduna auf ihrem Handy. Sie sagt: „Nach der Matura habe ich sie besucht.“ Sie fügt hinzu: „Nils Käloff ist damals der oberste Richter Schwedens, er hat den Papa zu sich genommen.“ Deswegen das Porträt, in Öl. Die Freundschaft ist geblieben. Nach dem Krieg schicken Nils und Iduna Lebensmittel nach Österreich. Für das junge Paar aus Wien und ihr kleines Mädchen. Als die Mutter stirbt, will Iduna das Kind adoptieren. Der Vater will das Mädchen aber nicht verlieren. Die kleine Katharina bleibt bei ihm. Der Vater bekommt wieder Aufträge. Viele Werbeplakate. Für politische Parteien. Darauf schreibt er in schöner Schrift „Zweimal befreit und doch nicht frei“. Für den österreichischen Tourismus sogar auf schwedisch und auf englisch. Fremdenverkehrswerbung heißt damals nur Verkehrswerbung. Nach dem Abzug der schwarzen Ami-Soldaten gab es auch keine Fremden mehr. Die Menschen waren alle gleich. Wie vor dem Krieg. „Frisch-fromm-fröhlich-freie“ Mädchen und stramme Burschen beim Schifahren, Wandern oder auf Sommerfrische. Junge Paare, blonde Kinder in knallbunter Landschaft. Österreich, „Land der Berge, Land am Strome“. Der Papa pinselt Werbebotschaften auf Hausmauern, für die Straßenbahnwägen und für von innen beleuchtbare Haltestellensäulen.
Wiederaufbau. Wirtschaftswunder.
Es geht aufwärts.
Zeugnisse einer Stadtgeschichte.
Blick zurück in eine andere Zeit.
Semperit-Reifen und Montfort-Wäsche.
Rhomberg-Mode: „für Haus, Sport und Tanz“, „Dirndl-Stoffe für jung und alt“, „Echtfärbige Gartenkleider“.
Kotányi-Gewürze und Anker-Brot.
Clio-Brauselimo und ÖMV.
Teebutter und Saftgulasch.
Damals werben drei kleine rote Teufel für Viktorin Öfen; damals ist das Backen mit Haas leicht gemacht, und Elastisana-Wollhosen sind ein guter Griff; damals ist die Schmoll-Pasta ein Friedensprodukt, das neue Waschverfahren Persil ein selbsttätiges Waschmittel, und die Hirschseife wäscht strahlend weiß.
Damals.
„Vielgeliebtes Österreich,
arbeitsfroh und hoffnungsreich.“
Inzwischen ist das Haus in der Nußdorfer Straße mit der Kotányi-Werbung abgerissen worden. Inzwischen ist auch er gestorben. Der geliebte Vater. Katharina vermachte den gesamten Nachlass der Nationalbibliothek.
Aber damals, in den fünfziger Jahren, kann der Vater für sich und sein Kind aufkommen. Sechseinhalb. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter. Das Mädchen sitzt unter dem Schreibtisch des Vaters und zeichnet. Bei großen Flächen darf es am Wochenende die Werbungen des Vaters manchmal ausmalen. Der Vater kocht für sie Grießbrei und Marillenknödel. Nockerl darf das Mädchen ins heiße Wasser werfen. Am Wochenende bäckt der Vater Hendel. Er bastelt für sie Faschingskostüme. Spielt für sie Mundharmonika. Geht mit ihr Schifahren und Steine klatschen an die Donau. Er spielt mit ihr Verstecken und Geist. Wenn sie krank ist, erfindet er Geschichten vom Zippe-Zappe-Zwerg, jeden Tag eine neue. Er baut Landschaften und lässt all ihre Tiere erscheinen. Er zeichnet ihr junges Gesicht mit Kohle. Sie fühlt sich geliebt und geborgen.

Sie sitzen im dunstigen Licht des Sommers. In der Abendsonne. Die Hitze ist groß. Kein Wind über dem Garten. Die Katze schnurrt, die Rosen duften. Die Kohlezeichnung ist noch da. In der schwarzen Vitrine; mit dem Messingschild seines Ateliers mit dem Namen August Schmid und der Visitenkarte mit der Aufschrift Künstlerische Reklame und Werbegraphik, als er selbstständig war; mit der Malerpalette und der Omega-Uhr, der Mundharmonika und der Klappkamera.
Vom Wohnzimmer kommt eine sanfte Musik, Klänge einer Gitarre, Beyond the Missouri Sky, wie damals, als ihr Mann noch lebte, an den Sommerabenden. Darum fällt es ihr jetzt so leicht, über ihn zu sprechen, weil der Junge mit den schwarzen Augen diesen Schmerz auch kennt. Er hat jetzt die Eltern verloren.
So redet sie weiter. In der stickigen Hitze des Abends sagt sie es ihm, das Unsagbare. Ihr Mann, tot. Innerhalb ein paar Stunden. Das Herz hat versagt. Alles ist an diesem Tag, mit diesem Anruf, für sie zu Ende gegangen. Auf diesem Segelboot, mitten in der Adria. Diesmal war sie nicht dabei. Er ist nicht mehr zurückgekommen. In ihren Garten. Und er war nicht mehr da. Es gab keine Reisen mehr und keine Jahreszeiten. Noch hört sie manchmal sein Lachen, seine Stimme, wenn er sie zum Essen rief, wenn er von Reisen erzählte, von Jazz-Konzerten schwärmte. Sie sagt: „Und er kochte so gerne. Du hättest ihm gefallen. Er hätte dir viel beigebracht.“ Auf dem Handy zeigt sie dem Jungen Fotos von einer Zeichnung Egon Schieles, die ihr Mann geerbt hatte. Das ist alles, was von ihm übrig ist. Jetzt ihre Geldeinlage. Für den Fall, dass. Dem Jungen zeigt sie auch Fotos von dem Mann. Ein roter Vollbart mit einem Lächeln, am Ruder eines Segelschiffes. Sie sagt: „Ach! Was sind wir jung gewesen!“ Der Junge aus Afghanistan sagt, er will keinen Bart tragen, wie alle Moslem-Brüder, und wie sein großer Bruder, der jetzt in Belgien lebt. Sie findet, ein Bart würde ihm gar nicht passen, sein Gesicht sei noch das eines Kindes. Sie erzählt weiter vom Mann, Max, ihrer Jugendliebe. Und vom Unaussprechlichen: noch nach Jahren und Tagen, der Schmerz der Trennung. Der tote Körper unten am Friedhof. Unter der Föhre. Rote Rosen am Grab. Und den Spruch Bertold Brechts, eingraviert in den Stein. Sie war nicht dabei. Man rief sie an und sagte ihr nur, dass er dort gestorben sei. Auf hoher See, auf diesem Schiff.

Lange hatte der Junge mit den schwarzen Augen nicht sprechen können. Lange war er, ohne zu zeigen, dass er Kummer hatte. Lange wusste er die Wörter nicht. In ihrer Sprache. Am Anfang konnte er nur seine Sprache. Paschto. Auch ein wenig Dari. Sie weiß nicht viel von seiner Kindheit. Sie weiß nur, dass seine Namen Licht und Reinheit bedeuten und zwei der neunundneunzig Namen Allahs sind. Und dass es jetzt nicht mehr wichtig ist für ihn.
An diesem Abend also fängt er an zu erzählen. An diesem Abend, im Sommer um halb elf, sein Unaussprechliches: den Schmerz der Trennung, unerträglich, seine Mutter, seine geliebte Mutter, und jetzt ihr Herz versagt, aufgegeben. Verzweiflung und Einsamkeit. Die Mutter habe kein Gesicht mehr. Auch der kleine Bruder, die kleine Schwester nicht mehr. Der tote Körper der Mutter. Die Nachricht, dass sie dort gestorben sei. Im Iran. Und dann der Vater. Tot. Die kleine Schwester und der kleine Bruder jetzt ganz allein beim Onkel. Sechs Jahre nicht gesehen. Unfassbar. Und er, der Junge, der Ungläubige, noch am Leben. Bilder kreisen. Bilder aus der Kindheit. Er weiß nicht, wann er geboren wurde. Auch nicht im Shamsi-Kalender. Er könne ohnehin nicht zwischen den Kalendern umrechnen. Das Datum im Pass habe ein Dolmetscher einmal protokolliert. Bei dem ersten Verfahren wusste er auch nicht genau, wie alt er war. Er sagte, er sei etwa siebzehn. Geschätzt. Und dann stand es auf der Asylkarte. Und jetzt im Reisepass. In diesem „Reisepass der Republik Österreich, der für alle Staaten der Welt ausgenommen Afghanistan gilt“.
Vieles weiß er nicht mehr. Übrig ist nur die Erinnerung an den Namen Tagab, den Ortsnamen, den Fluss. Heimatdorf der Kindheit. Lehmhäuser in Erdfarbe. Bäume, Felder, Oase. Der Vater besitzt eine Parzelle. Der Boden saftig grün. Die Frauen legen die Wäsche zum Trocknen auf die Dächer. Und abends steigt Rauch auf von den Feuerstellen.
Die Provinz heißt Kâpîssâ. Das Kâ hinten im Gaumen, das helle î im Namen. Der Name gefällt ihr. Sie sagt zu ihm: „Kâpîssâ, das ist dein Name.“ Die Zartheit des Namens. Wie sein Name, Noor, das Licht. „Du darfst den Namen nicht vergessen.“ Er sagt, er wird gar nichts vergessen. Die fruchtbare Erde, die hohen Gebirge, höher als hier, in Österreich. Die Erde rot. Den gelben Himmel über der Stadt. Marmorstaub. Sand aus der Wüste. Das Wasser auch, unaufhaltsam. Mit sich Schlamm vom Gebirge. Den Fluss so groß, so wild. Und den Duft von Gewürzen und gebratenem Fleisch. Die Männer sitzen im Schatten der Häuser und trinken Tee. Im goldenen Abendlicht.
Eines Tages, lange vor seiner Geburt, beginnen die Verfolgung, die Schrecken, die Zerstörung. Der Junge sagt: „Sie kennen nur Zerstörung“. Die Taliban haben Fernsehverbot ausgesprochen. Sie verbannen die Frauen. Töten Kinder und Alte. Sie bombardieren aus der Luft, auf den Straßen, alles wollen sie zerstören. Wieder und wieder, die Schreie der Menschen, die Leichen der Kinder, die Gesichter der Frauen mit Säure verätzt. Ja, sie töten Familien, sie kommen in der Nacht, „Razzia“, ein arabisches Wort, und holen die Leute, wenn sie für die Regierung arbeiten, wenn sie nicht gläubig sind. „Ich will nicht Krieg für mein Land. Ich bin ein echter Afghane. Ich bin Paschtune.“
Sie sagt: „Wie ein gelber Stern. So hat es auch damals bei uns angefangen. Die Juden. Die Verfolgung. Der ganze Schmerz der Welt. Nie endende Schreie, unendliches Leid. Diaspora.“
Er sagt, er habe es gesehen, die verstümmelten Körper, bedeckt mit Asche, in Asche getaucht, den Ort des Todes. „Alles habe ich gesehen. Alles.“, sagt er. Der Richter habe ihm gesagt, er solle freiwillig ausreisen. Nach Afghanistan zurückkehren. Eine Rückkehrhilfe wolle er ihm auch geben. „In Afghanistan ist Krieg. In Kabul gibt es jeden Tag Selbstmordanschläge. Kein Mensch reist ein Jahr zu Fuß und riskiert sein Leben, wenn er keinen Grund hat“, habe er dem Richter gesagt. Also dem Dolmetscher, und dieser habe übersetzt. Nicht nach Kabul wollte ihn die Behörde schicken, nach Mazar-e Sharif. „In dieser Stadt gibt es zu wenig Wasser und zu wenig Essen für alle. Oft ist Dürre, die Erde ist ganz hart und kann keine Früchte geben.“ Das alles habe er dem Richter gesagt. Und dass er die Stadt nicht kenne. Und niemanden dort kenne. „Wovon soll ich leben? Wo soll ich schlafen? Auf der Straße? Das kann ich hier auch. Ich habe ein Recht auf Leben, ein Recht auf Verbot von Folter.“ Die Sätze hat er auch schon gelernt.
Deswegen musste er weg. Aufbruch. Zu Fuß. Sechs Jahre ist es nun her. Eines Tages kommen die Taliban ins Haus. Er ist vierzehn. Ja, er muss vierzehn gewesen sein. Fünfzehn vielleicht. Davor war er vier Jahre in die Schule gegangen. Länger nicht, weil die Taliban sagten, das Lernen mache nur Ungläubige. Man solle den Islam lernen, nicht dieses ungläubige Wissen. Die Schule war unter einem Baum, im Dorf Achunkhel. Zwanzig Minuten zu Fuß von seinem Heimatdorf. Die Schule hat immer im Hamal begonnen und neun Monate gedauert. Dann gab es drei Monate Ferien. Es war in den Sommerferien. Er wohnte da mit seinem Vater, seiner Mutter Sima, dem kleinen Bruder, Baset, damals sieben, und der kleinen Schwester, Mazalifa. Der ältere Bruder wohnte in Uruzgan und arbeitete für die Regierung. Als Soldat. Der Bruder wollte zur Armee, weil er seinem Land dienen wollte. War in Kabul ausgebildet worden. „Ich weiß nicht, wie lange diese Ausbildung dauerte. Ich war ein Kind damals“, habe er dem Richter gesagt. Der große Bruder hatte an Gefechten als Frontkämpfer teilgenommen. Seine Aufgabe war es, Distrikte von den Taliban zu befreien. Er und seine Kameraden haben das gemacht. Mehr wisse er nicht, nur das, was der Bruder erzählt hatte. Das Haus der Eltern war ein kleines Haus mit einer hohen Lehmmauer herum. Sie sind also gekommen, eines Tages, in den Sommerferien. Er war oben, im ersten Stock, mit der Mutter. Unten kam der Vater gerade von seinem Feld. Er ist immer nach dem Morgengebet um vier in der Früh auf sein Feld arbeiten gegangen. Zu siebt waren sie. Vermummte Kämpfer. Sie sagten dem Vater, die zwei großen Söhne seien alt genug, um für sie zu arbeiten, mit ihnen in den Dschihad zu ziehen. „Gefahr der Zwangsrekrutierung“ heißt es in den Protokollen. Sie packten den Vater, zerrten ihn in ein Auto. Mitgenommen. Dort haben sie ihn verprügelt, seinen Kopf unter Wasser getaucht. Am nächsten Tag haben sie ihn nach Hause gehen lassen. Drei Tage später seien sie wieder gekommen. Aber die zwei Brüder hatten sich versteckt. In derselben Nacht sind sie ausgereist. Es war der Beginn des Winters. Und die Reise dauerte lange.
Im Iran hatte der Vater einen Cousin, der einen Schlepper kannte. „Ich weiß nicht, wie er heißt und was die Reise gekostet hat. Mein Bruder hat das gemacht. Aber ich glaube, eins Komma sieben Millionen Toman pro Person. Ich war jung.“ Die Reiseroute war lang. Er sei fast ein Jahr unterwegs gewesen. Viel zu Fuß. Über Pakistan zu dem Cousin nach Iran. Zuerst Kabul. Danach Nimroz. Da haben sie die iranische Grenze überquert. Im Iran waren sie lange zu Fuß unterwegs. Die Gruppe soll sich aber aufgelöst haben, weil die iranische Polizei hinter ihnen her gewesen sei. „Mein Bruder ist verloren gegangen. Ich bin mit den anderen weitergereist. Nachdem mein Bruder die Arbeit für die Regierung aufgeben musste, hatte er kein Handy mehr. Die Taliban haben ihm sein Handy weggenommen. Sie sagten, dass er sich diese ungläubigen Filme anschaut.“ Er habe bis vor kurzem nicht gewusst, wo der große Bruder ist. Dann weiter über die Türkei nach Griechenland. In einer Nacht wie dieser verlässt das Boot die türkische Küste. Und das Festland verschwindet. Unter dem grenzenlosen Himmel das Meer, nichts als das Meer, das unendliche Meer, die Wellen wie Berge, keine Küste in Sicht. Kein Land am Horizont. Verzweiflung. Während der Überquerung fällt ein junger Mann ins Wasser. Treibt im Meer. Verloren in der Nacht. Ertrunken. In Athen habe der Junge sechs Monate verbracht. Auf der Straße geschlafen. „Dann habe ich es geschafft, über Mazedonien und Serbien nach Ungarn zu kommen.“ In diesen Ländern, in dieser Reise gab es keine Jahreszeiten mehr. Die Hitze und die Kälte. Sommerregen, Wintereis. Schlaflose Nächte. Noch eine Nacht, noch ein Tag. Noch eine Straße. Und immer dieses Warten. „Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Reise gedauert hat. Aber mein Pass ist da gestohlen worden. In Ungarn. Meine Identitätskarte, mein afghanisches Tazkira, die in Tagab ausgestellt war. In Ungarn gestohlen oder verloren. Ich habe es dem Richter auch gesagt.“
Einmal sei er dann weiter gegangen, zu Fuß durch ein Waldstück, er glaubt, er sei plötzlich schon in Österreich gewesen. Er habe in einem Dorf gefragt, jemand habe gesagt, er solle sich in den Zug setzen, und so sei er nach Wien gekommen.
Weiter sagt er: „Nur auf dem Papier bin ich Moslem, sunnitischer Moslem. Aber es bedeutet nichts mehr. Ich bete nicht, schon lange nicht mehr, gehe nicht in die Moschee und faste nicht im Ramadan. Ich bin „vom islamischen Glauben abgefallen“, so steht es in meinem Antrag auf internationalen Schutz. So nennen sie das. Die Behörde und auch die Taliban. Für sie habe ich mit dem Feind kollaboriert, ich bin harām, mein Leben ist harām. Der Islam ist Staatsreligion. Die Scharia ist das Gesetz. Aber sie sind Barbaren. Die wissen nichts, sind ungebildet. Sie schätzen ein Menschenleben nicht. Und die Taliban haben überall ihre Leute, die kommen und prügeln dich deswegen. Sie steinigen dich. Sie trennen deinen Kopf mit Schnürsenkel ab. Sie werfen Säure in das Gesicht der Frauen. Wenn ich zurückkehre, sagen sie, ich muss sterben. Ich soll Todesstrafe bekommen. Ich kann nicht zurück. Ich habe Deutsch gelernt und die Wertekurse bestanden. Ich bin jetzt „unafghanisch“, ich lebe europäisch. Und du, du bist wie eine Familie. Wie eine Mutter. Bei dir ist mein Zuhause. Und ich habe hier viele Freunde. Ich kenne Österreich. Die Sehenswürdigkeiten. Die Spezialitäten und sogar die Weinkarte. Ich kann nicht afghanisch kochen. Ich kann nur Wiener Schnitzel und Petersilkartoffeln, Krenobers und Spargelcremesuppe. Das habe ich alles in der Tourismusschule gelernt. Und ich will Kellner werden. Ich kann viele Cocktails. Ich habe sie alle gekostet. Ein Moslem trinkt keinen Alkohol. Ich will hierbleiben und Kellner werden. Ich kann ein guter Kellner werden. Ich will Kellner werden“, sagt er wie ein Mantra. „Ich bin nicht mehr illegal.“
Das ist alles. Was er sagen kann.
Sie schaut ihn an. Sie sieht sein Gesicht: ein Kind fast. Während er das sagte, hatte er die Augen gesenkt. Die schwarzen Augen. Und plötzlich erkennt sie das Gefühl, das er ihr zugefügt hat, die untröstliche Zärtlichkeit. Beinahe Verzückung. Er hatte sie Mutter genannt. Sie denkt, er sei wie ein Kind für sie. Sie, die keine eigenen Kinder wollte. Dass sie ihn nie im Stich lassen wird. Es sei jetzt alles gut, die Verluste seien gedeckt.

Der Garten ist kühler geworden, eine Spur nur. Friedlich. Das milchige Licht des Abends ist gewichen. Langsam bricht Dunkelheit ein. Es ist halb elf in dieser Sommernacht. In der Stille der Nacht sind alle Augen schwarz. Der Junge sitzt barfuß auf den heißen Steinen. Ein Teeglas in der Hand. Die Katze ist schon längst eingeschlafen, eingehüllt von der sanften Musik.
Der Garten atmet, pocht. Die Schneerosen längst verblüht, die Blätter des Feigenbaums duften. Schwere Süße. Die Grillen zirpen in den hohen Gräsern. Ein Moment des Friedens. Ein Ort wie aus der Welt. Ein Zufluchtsort, ein Damm. Gegen die Welt der Kriege.
Sie sehen einander an.
„Was wird aus mir werden? Manchmal habe ich Angst“, sagt er zu ihr. Und fragt mit einem leichten Lächeln: „Wirst du immer für mich da sein?“
Und sie antwortet: „Natürlich, ich verspreche es dir. Und wenn ich kein Geld mehr habe, kann ich noch immer die Zeichnung verkaufen.“ Dann sagt der Junge ein Wort, das er neu gelernt hat: „Ich bin dankbar“. Er schaut sie an, seine Augen glänzen im Kerzenlicht, und wiederholt den Satz vollständig und grammatikalisch korrekt: „Ich bin dir sehr dankbar.“ Und fügt ihren Vornamen hinzu.

Cool, sagte Ben.

– Fock killt!
Ben springt auf und holt die Fockschot dicht.
– Das war jetzt absolut falsch! sagt sein Vater.
Am dritten Tag unseres Segeltörns hat sich die ganze Crew an Ernsts Befehlston gewöhnt. Kasernenhofmanier. Der Skipper trägt die Verantwortung, also entscheidet er über alle Manöver. Und vor allem: Keiner handelt ohne Kommando. Das weiß Ben. Sowie er eigentlich weiß, was zu tun ist, wenn der Vorschotmann meldet, dass die Fock zu flattern beginnt. Es muss Gegenruder gelegt werden. Und das darf nur der Steuermann. Und jetzt steht gerade sein Vater am Steuer. Also soll er entscheiden, ob wir uns weiter vom Wind treiben lassen oder ob er riskiert, dass der Großbaum auf die andere Seite hinüber schlägt. Es herrscht Stille am Bord. Ernst versucht durch Feineinstellungen bis zur Grenze des Killens zu gehen. Alle warten auf Anweisungen.

Ernst ist Architekt. Ein Techniker, ein Homo Faber. Für ihn gelten nur Tatsachen. Nicht die Schönheit der Landschaft, der Lichtwechsel des Mondes oder die Röte des Sonnenuntergangs. Isotherme und Isothere. Wassertiefe und Fahrwassergrund. Lufttemperatur und Windstärke. Wenn er gesprächig wäre und literarisch gebildet wie sein Bruder, würde er über diesen schönen Augusttag des Jahres zweitausendvier sagen: Über der Adria befindet sich ein barometrisches Minimum! Selbst abends, wenn wir alle ziemlich erschöpft und ein wenig beschwipst in unsere Kojen fallen und die Ruhe der Nacht und die Frische der Brise durch die offenen Luken genießen, überprüft er an Deck die Ankerhaltekraft, die Bojen, schließt die Luken, kontrolliert das Barometer, die Peilungen, holt noch die letzten Windvorhersagen ein.
– Recht so! meldet dann Max vom Vordeck zu Ernst.
Wir haben jetzt den idealen Kurs. Ernst scheint zufrieden zu sein. Wir segeln zwischen kleinen Inseln, manche karg und felsig, leblos, andere bewaldet, mit Resten römischer Ruinen, von Schafen bewohnt. Keine Häuser, keine Straßen, keine Schiffe in Sicht. Konstanze cremt Ben am Rücken ein. Er hält seine Dreadlocks hoch. Sein Onkel sagt schelmisch: Weil Gott nicht alles allein machen und nicht überall sein konnte, schuf er die Mütter. Alle lachen bis auf Ernst. Gestern hat er sogar in derselben Situation gesagte: Muss das unbedingt jetzt sein? Aber zur gleichen Zeit entdeckte Katharina ein Paar Delphine, die uns ein kurzes Stück begleiteten und für gute Laune an Bord sorgten. Im Sonnenstrahl schillerten ihre Flossen grünlich, in ihrem Kielwasser hatte der Meeresschaum Regenbogenfarben.

Über uns fliegen jetzt vier Löschflugzeuge zu einem Brand hoch oben auf einem Berg. Pinienwald. Cool! Sagt Ben. Die Wassermassen prasseln auf das Flammenmeer. Die Flugzeuge verschwinden in einer schwarzen Wolke, zerreißen den Rauch und fliegen zurück, um erneut Wasser aufzunehmen. Unaufhörlich. Unsere Männer an Bord streiten über die Wassermenge, die so ein Flugzeugtank wohl fassen mag. Und über Spannweite und Länge der Maschinen. Sie stoppen die Zeit zwischen Wasserladung und Abwurf. Zehn Minuten. Die ganze Operation ist spektakulär. Ein gewaltiges Schauspiel. Für uns aber zeigt sich die Adria von ihrer besten Seite. Die Sonne scheint, der Wind ist ein wenig abgeflaut, wie immer am späten Nachmittag. Aber es geht zügig voran. Wir passieren eine Inselgruppe. Auf Befehl seines Vaters löst Ben ihn am Ruder ab: Kurs halten, auf die Hook! Ernst geht in die Kajüte, die ganze Lage überprüfen: Windstärke, Windrichtung, Windvorhersagen. Von Südwest auf Nordosten drehender Wind. Und Sonne. Er erwägt wahrscheinlich eine Bucht zum Anlegen heute Nacht. Max ist ihm nachgegangen. Jetzt sitzt Robert ganz vorne an Deck. Mit Katharina und Konstanze. Ab und zu vernehme ich ein Lachen, vom Wind verweht. Marie liegt neben mir im Schatten und döst ein wenig. Ihr Bruder steht stolz am Ruder, sich seiner Verantwortung bewusst. Die Sonne spielt auf seiner semmelbraunen Haut, die Salzkristalle glänzen in seinen Dreads und an den Wimpern. Sein nackter Oberkörper hat noch etwas Kindliches, die glatte Brust, die schlanke Taille, der flache Bauch. Ein Adonis. Sie werden ihn lieben, die jungen Studentinnen, wenn wir nach Wien zurückkommen. Sicher wird er im Herbst versuchen, mich alleine zu treffen, mir seine Lokale zu zeigen, mich stolz seinen Freunden vorzustellen: Helen, sie ist Schauspielerin. Oder warten bis einer sagt: Die kenne ich doch vom Fernsehen!
Nett wäre das schon, so eine Geschichte, mit einem viel Jüngeren. fünfzehn Jahre Unterschied! Mein Gott! Nein, ohne Zukunft. Außerdem kenne ich ihn schon eine Ewigkeit, als Schulkind schon, als Marie und ich mit dem Studium begonnen haben; vermutlich hat er in der Pubertät von mir geträumt; nein, das kann ich ihm nicht antun, er ist noch so unschuldig und unerfahren. Er weiß nicht einmal von mir, von meiner Geschichte, von den Anfällen. Steinhof, Pavillon 2. Medikamente, Serotonin, Musiktherapie, Gespräche, dann Pavillon 35, Ergotherapie; und dazwischen immer wieder, jahrelang, Lithium, Familienaufstellung, Verhaltenstherapie; nein, auch für mich ist es zu früh für eine neue Beziehung. Jetzt einmal diesen Urlaub genießen, die frische Luft, das Meer, den wunderschönen Nationalpark, und aktiv zum guten Verlauf des Törns mit meinen Grundkenntnissen beitragen. Später einmal, vielleicht, weiter lernen. Trapezsegeln stelle ich mir toll vor.

Ernst übernimmt wieder das Ruder und beschließt einen Kurswechsel. Da ist Arbeit für alle acht angesagt. Jeder geht auf seine Position und überprüft kurz, ob alles für das bevorstehende Manöver passt. Ich ziehe meine Handschuhe wieder an.
– Klar zum Wenden?
– Klar!
– Holt dicht die Schoten!
Das Anziehen der Schoten macht Spaß und ist ganz schön anstrengend. Ich mag auch das Geräusch der Winsch. Marie reicht Ben die Kurbel, ich halte die Leine gespannt und ziehe dann weiter, während Ben mit voller Kraft die Trommel dreht. Vereinte Kräfte. Unsere Haut berührt sich. Unsere Blicke kreuzen sich. Wir lächeln einander an. Alles läuft wie geplant. Schließlich ist der Wind nicht mehr so stark, und wir sind schon ein routiniertes Team.
– Achtung, Feineinstellung!

Die Sonne hat uns jetzt verlassen, der dritte Tag geht langsam zu Ende. In einer Stunde etwa werden wir schon in einer Bucht geankert haben und einen gemütlichen Abend verbringen können. Und eine ruhige Nacht. Hoffentlich. Wir kreuzen jetzt gegen den Wind.
Nur Narren und Christen segeln gegen den Wind! schreit uns Robert vom Vordeck zu. Ben lacht über seinen Onkel, der in jeder Situation ein passendes Zitat hat oder ein arabisches Sprichwort weiß, weil er sich gerade für einen Kongress im Herbst mit arabischer Literatur beschäftigt. Der kluge, alte Professor. Ein Segen für unseren Törn. Fein, kultiviert, sensibel, literaturbegeistert und kunstinteressiert, das Gegenteil seines jüngeren Bruders. Als wir an unserem ersten Abend Irrlichter gesehen haben, wusste er viele Sagen und Legenden um diese bläulichen Flämmchen zu erzählen. Er sprach von den Irrwischen, diesen Geistern, die sich geheimnisvoll blau flackernd bewegen, um Menschen und Seeleute absichtlich in die Irre zu locken. Er erwähnte die Walpurgisnachtszene in Goethes Faust. In dieser Nacht lässt Mephistopheles ein Irrlicht kommen, das Faust und Mephisto den Weg weisen soll. Erlaub’, dass ich ein Irrlicht bitte! Dort seh’ ich eins, das eben lustig brennt! Und das Irrlicht spricht. Alle hörten gespannt zu, bis Ernst den ganzen Zauber der Erzählung brach, indem er prosaisch erklärte, dass es sich eigentlich um sich entzündende Faulgase handle. Ich merke wohl, Ihr seid der Herr vom Haus! sagte Robert abschließend. Wie können Brüder nur so grundverschieden sein? Der Geisteswissenschaftler und der Natur­wissen­schaftler. Dass seine Tochter ein Literaturstudium gewählt hat und sein Sohn Anthropologie studiert, muss für Ernst ein harter Schlag gewesen sein! Keine Berufe mit Zukunft! Marie unterrichtet, es geht noch, aber Ben? in der Forschung will er auch noch arbeiten. Seitdem sein Onkel vor ein paar Jahren von dem schrecklichen Überfall auf eine Forschungsstätte der Wiener Anthropologen erzählt hat – Ben war damals noch am Gymnasium – will Ben auch nach Äthiopien. Seine Leidenschaft für die Anthropologie hat er sicher von seinem Onkel.
– Fier auf die Schoten, neuer Kurs: raumer Wind!
Wieder folgt ein Segelkommando auf das andere. Die Mannschaft gehorcht. Diesmal drehen Marie und ich abwechselnd die Winschkurbel, während Ben mit aller Kraft die Leine anzieht. Ernst erfüllt am Ruder seine Skipper-Pflichten, Katharina und Konstanze kümmern sich um die Fock, und Max und Robert um die Logbuch-Eintragungen. Auf Kurs „raumer Wind“ besteht keine Gefahr bei dem leichten Wind.
Nun schaut Ben in die Ferne. Was denkt er bloß? Ausgelacht hat ihn sein Vater wieder, als er beim Frühstück vom tollen Sonnenaufgang schwärmte, und zu Mittag, als wir in einer Bucht bei fast Windstille, glattem Meer und Sonne zusammensaßen, und Ben sagte, dass er am Samstag in einem Ort oder in einer Marina anlegen wolle und eine Disco finden. So ein Blödsinn! Hat sein Vater gesagt.
Wie kommt man auf so ein Schiff? Mit solch verschiedenen Leuten, solch verschiedenen Interessen! Max und Katharina in der vorlichen Kajüte Backbord, Ernst und Konstanze in jener an Steuerbord, Robert und Ben in der achterlichen Kajüte Backbord, Marie und ich in jener an Steuerbord. Max und Katharina sind überhaupt sehr diskret. Bei Abstimmungen schließen sie sich immer der Mehrheit an. Max hat auch den Segelschein, gehört schon jahrelang zu Ernsts engerem Team. Einen Arzt an Bord zu haben, kann außerdem Leben retten.
– Cool! sagte wieder Ben, als Max einmal erzählte, dass er an sich selbst einen Hodenbruch operiert habe!
Konstanze, treue Begleiterin, verwaltet die ganze Kombüse, sie hat an alles gedacht: Frühstückssäfte, Eier, Brot, Käse, Salami, Hauptessen, scharf kalkuliert für die Anzahl der Tage und der Passagiere, aber auch Aperitifkekse, Bier, Wein, sogar eine Geburtstagstorte. Geduldige Konstanze, die Ernsts Sticheleien einsteckt: Willst du mich rationieren? oder Hier gibt es keine Schnüre und Stricke, nur Schoten und Leinen! Treue Konstanze, die ihrem Sohn den Rücken eincremt, sich rücksichtsvoll um das Wohlbefinden aller Passagiere kümmert, um Maries gelegentliche Seekrankheit, um meinen seelischen Zustand; geliebte Konstanze, Vorzeigemutter; so eine hätte ich gerne gehabt. Oft schweigen alle an Bord und schauen in die Ferne, aber nicht aus demselben Grund! Ben ist in seine Reiseträume vertieft oder stellt sich Dinge vor, seine Blicke sind manchmal so … Jeder hat seine Träume und seine Traumata. Ich neige immer dazu, zu denken, dass ich die Einzige bin, ich denke an vergangenen Winter zurück und verfalle in Wehmut, aber die anderen? Vielleicht eine Fehlgeburt, eine außereheliche Beziehung, eine unheilbare Krankheit, wer weiß, ob nicht ausgerechnet Ernst, dieser Mustermann, von uns allen das Schmerzhafteste zu verbergen hat? In der Koje erzählte mir Marie Bens Kindheit, ein Nachzügler, verwöhnt und gleichzeitig Sorgenkind: die Asthmaanfälle, jeder Sommer auf Kur mit der Mutter, aber auch, wie sehr Ben seinen Vater bewundert. Trotzdem! Dass sich ein Zwanzigjähriger derart vom Vater behandeln lässt! Ich frage mich, von welchem Gefühl Ernsts Art mit Ben bestimmt sein mag? Ist es Ehrgeiz, den einzigen Sohn richtig erziehen zu wollen, „du wirst ein Mann, mein Sohn“? Ist es Eifersucht, weil die Ehefrau dem Sohn mehr Aufmerksamkeit schenkt, wenn sie etwa beim Frühstück die letzten Tropfen Orangensaft Ben statt ihm einschenkt? Oder ist es seine sachliche Wahrnehmung der Welt, die ihm jede sinnliche verbietet? Gestern Abend, als wir nachts an Deck saßen, wir hatten von Fischern in einer kleinen Bucht Muscheln gekauft, die uns Max vorzüglich mit Tomatensoße und Gewürzen zubereitet hatte, es gab Weißwein dazu, da sah Ernst alles, was wir sahen: den Schattenriss der felsigen Bucht, den Sternenhimmel, und doch war für ihn die Landschaft in der Nacht dieselbe wie bei Tag. Er sah nicht die ganze Poesie des Abends. Sein Bruder zauberte wieder ein arabisches Sprichwort hervor: Eine Frau ohne Bauch ist wie ein Himmel ohne Sterne. Wir begannen den Himmel zu beobachten. Max versuchte den nördlichen Teil des Zentaurs zu erkennen, denn, erklärte er uns, das Sternbild, das in der Antike vom Mittelmeerraum aus noch vollständig sichtbar war, habe sich stark nach Süden verschoben. Robert fügte hinzu, wieso der Zentaur Cheiron von Zeus in ein Sternbild verwandelt wurde. In der griechischen Mythologie wurden die Zentauren als barbarisch und gewalttätig dargestellt. Eine Ausnahme bildete Cheiron, ein Sohn des Titanen Kronos. Cheiron, der als weise und gelehrt galt, war der Lehrer vieler griechischer Helden, so auch des Herakles. Cheiron fand ein tragisches Ende: Als eines Tages Herakles von dem Zentauren Pholos aufgenommen und bewirtet wurde, kam es zum Streit, da einige vom Wein berauschte Zentauren den Helden angriffen. Im folgenden Kampf wurde Cheiron versehentlich von einem vergifteten Pfeil des Herakles getroffen. Er war zwar unsterblich, doch das Pfeilgift hätte ihm ein langes qualvolles Dasein bereitet. Um Cheiron von seinen Qualen zu erlösen und ihn dennoch unsterblich zu machen, versetzte ihn Zeus an den Himmel. Ich kannte die Geschichte, weil ich einmal in Südfrankreich Bourdelles Statue vom sterbenden Zentauren gesehen hatte. Ben kannte auch die Geschichte, aber aus der Mickey-Maus! Ernst zuckte nur mit den Schultern.

Zur späten Stunde, als Ernst sich ums Logbuch in der Kajüte kümmerte, und Katharina und Konstanze schon schlafen gegangen waren, erzählte Max etwas Unglaubliches: Er habe von seiner Stiefmutter, Erna, ein Schiele-Bild geerbt.
– Cool, sagte Ben, ein echter Schiele?
– Ja, gemalt für seine Schwester am Weihnachtsabend 1905, mit fünfzehn. Weiße Schneerosen und dürre Zweige in einem Krug, davor eine Orange.
Robert fragte nach, ob er sich der Provenienz sicher sei, angesichts der vielen Prozesse von enteigneten jüdischen Emigranten, worauf Max erzählte, dass es einen alten Mann gebe, einen angeheirateten Onkel, der wisse, woher das Bild wirklich stammt. Und eine französische Freundin habe ihn über einen Freund in der Albertina mit Jane Kallir in New York, der Herausgeberin der Schiele-Monographie, in Kontakt gebracht für eine Expertise. Mehr dürfe er zum jetzigen Standpunkt nicht verraten. Ben war ganz aufgeregt, stellte sich vor, dass das Bild vielleicht Raubgut der Nazis sei, dass man einen Film daraus machen könne, in dem ich die Hauptrolle spielen solle! Wir unterhielten uns weiter über Schiele, über sein Schaffen, seine expressionistischen Gedichte, seinen Tod an der spanischen Grippe. Ben interessierte sich sofort für die Symptome, fragte Max, ob sie spektakulär seien, er habe nämlich einmal einen historischen Film gesehen, wo die Leute Blut schwitzten. Max erzählte ihm gruselige Details über die spanische Grippe und über die Syphilis-Epidemie, die während des Ersten Weltkriegs kursiert war, und von da weiter über die verheerenden Verstümmelungen und Nervenschäden nach den Giftgasangriffen. Ben war hingerissen und dachte sofort an einen Besuch im Pathologischen Museum im Narrenturm. Ich bin mir sicher, er hat es vergessen, sobald wir in Wien sind.

Es ist schon recht frisch geworden. Abwechselnd holen wir Pullover von der Kajüte, Marie und ich auch unsere Bücher. Sie liest den letzten Erzählband von Judith Hermann. Das Coverbild erinnert an den Nachthimmel, unter dem wir hier einschlafen. Herzzeit. Ich schlage mein Buch auf. Die Korrespondenz zwischen Bachmann und Celan. Ein Buch, würde Robert sagen, ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt. Ein Garten, in dem man sich verirren kann.
Wir nähern uns einer kleinen Bucht. Sie ist vor Wind und Wellen geschützt. Wir sind allein. Idyllischer Platz, lagunenklares Wasser. Die Vegetation auf der Insel ist spärlich. Backbord Maquis: dichte, stachelige Büsche. Steuerbord ragen Felsen heraus, Geröllfeld, der Kalkstein in der Abendsonne hat sich rosa und moosgrün gefärbt. Im blauen Himmel, der Mond als liegende weiße Sichel. Wir werden hier ankern, später eine Runde schwimmen, vielleicht ein nächtliches Bad. Konstanze und Katharina sind schon in der Kombüse und bereiten unser Abendessen vor. Die Fock wird geborgen. Ernst überprüft die Wassertiefe und den Wassergrund. Max legt die erforderliche Leinenlänge am Vordeck klar.
– Fallen Anker! Nach dem lauten Getöse der Ankerkette, scherzt Ben:
– Klar Deck überall!
– Führst du das Boot oder ich? kann sich sein Vater nicht verkneifen.
Wir stehen mit dem Heck etwa fünf Meter vom Land weg. Ernst überlegt Sicherheitsleinen anzubringen. Marie und Max rudern mit dem Beiboot an Land, um eine Heckleine zu befestigen. Den Heckanker werden wir zusätzlich als Reitgewicht ausbringen.
Ein Duft trockener Erde und Nadelhölzer strömt bis zum Boot. Ginster, Myrte, Rosmarin. Vom Ufer aus ruft uns Marie fröhlich zu:
– Feigenbäume! Voll Früchte!
Und Ben sagt: Cool!

 

Amanda Gorman, c’est moi !

Ich hätte gerne Dreadlocks oder so Zöpfe. Damit ich Toni Morisson ins Französische übersetzen darf. Oder Amanda Gorman. Meinen Sie, es würde reichen? Oder bin ich zu … alt? Oder müsste ich als literarische Übersetzerin ein alter weißer Mann sein, um Thomas Bernhard zu übersetzen, oder um Orhan Pamuk zu lesen? Comprendre Roudaki ou Hafez de Chiraz ? Lire Rûmî ou bien Omar Khayyām ? Comment peut-on sans être Persan ? Muss ich im Gefängnis gewesen sein, um Empathie für Asli Erdogan zu empfinden? Vergewaltigt worden sein, um Virginie Despentes zu verstehen? Wer ist dann in der Lage, Virginia Woolfs Orlando zu übersetzen?

Ich erhebe den Anspruch, über meinen Personenstand hinaus übersetzen und schreiben zu dürfen. Um mit Fiston Mwanza Mujila zu sprechen: „Mein Reisepass ist die Literatur“.

Denn … in meiner Jugend war ich schon Steppenwolf, Dorian Gray, Moby Dick,
Gustav von Aschenbach, mehr Goldmund als Narziß.
Unlängst war ich Charlie, Malala, Taslima,
Hausfrau in Filzpantoffeln, Stöckelschuhdomina,
A person of color, ja, a skinny Black girl,
habe mich sogar verwandelt in Angel Catbird.
Ich war Kampflesbe und Baby Queer.
Ich war schon Proust und Edouard Louis,
bin die deutsche Nina Bouraoui.
Ich war schon Ronnie und Rhonda,
sogar Shafia und Donia,
und auch Luan und Lydia.

Mitunter bin ich mir selbst so fremd, dass es keinen Unterschied macht,
ob ich über mich oder andere schreibe.
Und tief in mir fühle ich mich manchmal wie ein alter weißer Mann,
tief in mir bin ich oft lesbisch, schwul, jüdisch oder schwarz,
bin Superheld Iceman, Supermans Sohn und Catwoman.
Durch Hokuspokus, Simsalabim und Abracadabra,
En vérité, je vous le dis, Amanda Gorman, c’est moi !

Heute bin ich Ann Air.
Heute bin ich on air,
et comme Stromae je veux „lever mon verre
à ceux qui n’en ont pas”
de plume ni de voix.
Je veux lever ma voix,
Parce qu’aujourd’hui, tu vois,
Amanda Gorman, c’est moi !
Comprenne qui pourra.

Gebt mir eine Feder, die voll genug ist, und ich kann die Welt übersetzen.
Ich glaube, ich habe ein Schreib-Syndrom:
Ich möchte gerne für alle schreiben –
ich meine für die, die die Sprache nicht haben,
oder nur die native wie das Olivenöl.

Und über alles schreiben,
im Präsenz und im Singular,
im Plusquamperfekt, im Plural,
Für Tote und für Lebende,
Requiems, Memento mori,
für dich light, vegan und verträglich,
für dich vielleicht ganz schwer verdaulich.
Ich möchte schreiben für die vierte Wand und die gläserne Decke,
für die hintere Reihe und für dich, in der Ecke,
ja, du, ich könnte deine Echó sein,
dich von Fesseln befreien,
deine Verrenkungen heilen,
„Bein zu Bein, wie geleimt sollen sie sein“.

Denn die Feder soll stärker als das Schwert sein.
Oui,
la plume est plus forte que le glaive –
comme il avait raison, Césaire –
wahr, ein schreiender Mensch ist kein tanzender Bär.
Une femme qui crie n’est pas un ours qui danse,
une femme qui écrit est un homme qui pense
–   ses mots
et un être qui panse
–   les maux,
qu’elle parle pour elle ou qu’elle parle pour iel,
elle parle pour ceux qui n’ont pas voyagé,
qui n’ont jamais rêvé,
qui n’ont jamais osé.

Ich könnte eure Sappho sein,
eure Colette, eure Virginia,
oder noch eure Djuna
Barnes und eure Erika
Mann, und eure Yourcenar;
ou l’écrivaine amoureuse
                   et l’amante sauvage Annemarie Schwarzenbach.

Seid mein lyrisches Ideal, mein si­byl­li­nisches Idyll,
lasst euch besingen, konjugieren,
deklinieren, rezitieren,
sogar ganz kitschig deklamieren,
auf Deutsch oder lieber Französisch;
Lasst dies mein Fado, mein Blues sein,
mein Schwanenlied, mein Abgesang.

Seid doch mein Füllhorn der Gefühle,
meine Bleifeder, meine SchreibzeugInnen,
meine ewige Quelle und mein Ozitozin,
mein Antidot zur Melancholie,
meine Kornkammer der Inspiration.

Hiermit ist in den Stein gemeißelt und in Tinte gegossen,
auf Papier eingraviert, jetzt in den Raum gesprochen:
durch Hokuspokus und Abracadabra,
Amanda Gorman, c’est moi !

Défense d’afficher / Plakatieren verboten

Sicile, Catane (mais cette fois, c’est pas moi, je le jure !)
                              

Maroc : Casablanca, Essaouira, Marrakech
             

Belfort

Adele Kurzweil
 

 

Moissac, Frankreich

Auvillar, Frankreich
 

Saint-Sauveur en Puisaye, Frankreich
 

 

Vietnam, Saïgon (Hô-Chi-Minh-Ville)

Paris, Rue Ronsard

Vienne/Wien
 

Lisbonne
      

Marrakesch

Prague / Prag

Montauban
 

 

 

Vienne / Wien
Sandwirtgasse mai 2017 Donaukanal Nussdorf 5  Donaukanal Nussdorf 2   Donaukanal Nussdorf 1

Madrid
Sevilla I Madrid 25 avril 2017

Séville / Sevilla
Sevilla II Argote de Molina

Vienne / Wien
  Gymnasiumstraße 1  Gymnasiumstraße 2   Gymnasiumstraße 4
  Stollgasse 1  Sandwirtgasse mars 1  Sandwirtgasse février 2017

Montauban
Montauban   Montauban

Nice /Nizza
Cours Saleya 4

Klosterneuburg

Vienne / Wien
   Schäffergasse Sandwirtgasse 14  
Zieglergasse 

Geiseln

Auszug aus « Geiseln », deutsche Übersetzung des Romans Otages von Nina Bouraoui, Elster & Salis, 2021

Ich kenne keine Gewalt und habe nie Gewalt erfahren, keine Ohrfeigen, keine Schläge mit dem Gürtel, keine Be­schimpfungen, nichts. Selbst die Gewalt in uns, die wir auf den anderen, auf die anderen übertragen, selbst die ist mir fremd.
Das ist ein Glück, ein großes Glück. Wenigen von uns geht es so, das ist mir bewusst. Natürlich weiß ich von der Gewalt auf der Welt, aber sie geht mir nicht unter die Haut.
Ich habe meinen Schutzmantel, so bin ich nun mal: Ich erkenne das Böse. Ich lasse mich nicht vergiften. Ich habe mein Inneres zu einer Festung gemacht. Ich kenne jede Kammer, ich kenne jede Tür. Ich kann sie schließen, wenn ich sie schließen muss, öffnen, wenn ich sie öffnen muss. Das funktioniert gut.
Freude will erworben sein. Sie fällt nicht vom Himmel. Freude, das sind unsere Hände in der Erde, im Schlamm, im Lehm, dort können wir sie greifen und erfassen.
Ich habe diese Freude gesucht, wie besessen, doch wenn ich sie mal gefunden hatte, ist sie mir wie ein Vogel wieder entflogen. Ich habe mich damit abgefunden und weiter ge­macht, ohne mich allzu sehr zu beklagen.
Klagen belastet mich und die anderen. Es ist auch banal und kostet nur Zeit.
Meine Zeit ist begrenzt und kostbar. Ich fühle mich so oft getrieben, gehetzt. Manchmal würde ich lieber die Wol­ken am Himmel vorbeiziehen sehen oder auf dem Wald­boden liegen, mit geschlossenen Augen, das Feuer der Erde spüren.
Ich liebe die Natur. Ich glaube an sie, wie andere an Gott glauben. Es ist dieses Gefühl von Fülle, das Empfinden von Größe, jedes Mal dieses Staunen: das Geheimnis der Jahres­zeiten, die Tiefe der Ozeane, die Wucht der Gebirge, die Farbe des Sandes und des Schnees, der Duft der Blumen und der Moose im Wald, die unendliche Weite, die uns so klein er­ scheinen lässt.
Ich bin nie zusammengebrochen, niemals, auch nicht, als mein Mann vor einem Jahr gegangen ist. Ich habe standge­halten. Ich bin stark, Frauen sind stark, stärker als Männer, sie verinnerlichen das Leid. Für uns ist Leiden normal. Es ist Teil unserer Geschichte, unserer Geschichte als Frauen. Und es wird noch lange so sein. Ich sage nicht, es ist gut so, aber ich sage auch nicht, es ist schlecht. Es ist sogar von Vor­ teil: Wir haben keine Zeit, lange zu jammern. Und wenn wir keine Zeit haben, gehen wir zum Nächsten über. Erledigt. So stören wir niemanden.
Als mein Mann mich vor einem Jahr verlassen hat, habe ich geschwiegen, ich habe nicht geweint, habe nichts an mich herangelassen und nichts rausgelassen, wie bei der Gewalt war ich die Ruhe selbst.
Es kam wie aus dem Nichts, schließlich waren wir mehr als fünfundzwanzig Jahre zusammen. Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. All diese Jahre bestehen aus Ge­wohnheiten, auch aus Liebe, aber, seien wir ehrlich, vor allem aus Gewohnheiten, aus einer Reihe von Alltäglichkeiten. Es ist wie bei einem Band, das wir ausrollen und das sich unaufhörlich weiter entrollt, kein Ende in Sicht, und nur manchmal denken wir an dieses Ende, ohne wirklich daran zu glauben.

Funkfeuer

Sommernacht. Der Wind ist still, der Himmel wolkenfrei. London hat die Nachricht gesendet: « Auf der Heide blüht die Erika. » Und ihr seid mit dem Fahrrad zum Landeplatz gefahren. Diesmal bist du richtig dabei. Es wird nicht einer von diesen blinden Abwürfen, bei denen bestenfalls Waffen oder Sender in einem Weidenkorb landen, oder wo manchmal der Fallschirm nicht aufgeht und der Container mit einem Mordslärm gegen den Boden knallt und Hunderte von Zigaretten ins Gras gestreut werden.
Nein, diesmal ist es aufregender. Du weißt, dass der Pilot landen wird. Allein mit deiner Hilfe.
Das Dorf, dessen Café noch am Nachmittag voll Kartenspielern und Mädchenlachen war, schläft, gehüllt in Feigheit und Angst. Und ihr, Armee im Schatten, bereitet die Bodenmarkierung in der Form eines großen Buchstabens vor und versteckt euch im Gebüsch, mit eurem Geheimnis. Trübsinniges Warten, langes Schweigen, wo du Gräser zu einem Brautkranz flichst und alle Details im Kopf noch einmal durchgehst.
Auf der Lauer richtest du deinen Blick auf die schwarze Horizontlinie des Waldes. Da kommt er, dieser ersehnte bauchige Vogel aus dem Nordwesten, allein vom Vollmond beleuchtet. Jetzt heißt es laufen, Taschenlampen anlegen und den Landeplatz mit Blinkfeuer signalisieren. Ja, er hat es gesehen und blinkt zurück. Es dauert keine zehn Sekunden, bis die dröhnende Maschine wie ein zahmer Meeresvogel gelandet ist, sich um den eigenen Flügel gedreht hat und wieder abflugbereit dasteht.
Im Nimbus des glänzenden Metalls sitzt der Pilot im finsteren Sitzraum, verschwommener Umriss, das Gesicht im Dunklen versteckt, wie noch von dem Gedanken betäubt, das Unmögliche gewagt zu haben: diesen blinden Nachtflug ohne jegliches Licht als die Kontrolllampen des Leuchtzifferblatts, ohne jegliche Hilfe als die des Gyroskops und eines Höhenmessers. Jener berauschende Gedanke entlockt ihm ein plötzliches Lächeln, und seine Zähne strahlen im fahlen Glanz des Mondes.

Wenn es Nacht wird in Paris

Es ist um die Ecke der Rue du Quatre-Septembre und der Rue Louis-le-Grand. Du sitzt zum ersten Mal in diesem fast leeren Café. Du wartest auf deinen Bruder, Louis, Codename Tukan. An einer der getünchten Scheiben des Cafés ist über der Spitzengardine « Chope de l’Opéra » zu lesen, spiegelverkehrt. An diesem lauen Septemberabend tragen die Frauen noch Sommerkleidchen und fahren Rad mit flatterndem Haar. Ein Lieferwagen fährt vorbei mit der Aufschrift « Viandox », und in der anderen Richtung ein Briefträger mit Käppi und Umhang. Im Radio singt Fréhel Mon amant de Saint-Jean, zu dem du so oft mit Mimi getanzt hast, als es noch Bälle gab. Der Spiegel hinter der Theke wirft dein müdes Bild zurück, deine absinthgrünen Augen, den Zinktisch mit der Gauloise im Aschenbecher und dem Gläschen in seiner Bakelitschale. Es ist eine Zeremonie. Du legst den durchbrochenen Löffel auf das Glas, die Einkerbung am Glasrand, drauf einen Würfelzucker, mit Likör getränkt, du zündest das giftige Anisgetränk an, und der trügerische Geist verdunstet, ätherblau. Durch die Verzierungen des Löffels bilden sich goldene Tröpfchen, die langsam ins Glas fallen. Vorsichtig gießt du ein wenig Wasser über den Zucker und siehst, wie eine kleine weiße Wolke sich im Glas verbreitet, bis das ganze Getränk wie frostiger Reif aussieht. Flüchtiger Genuss. Ein erster Schluck, du schließt gar deine Augen, und du verfällst der tiefen Bitternis alter Erinnerungen.
Reifenknirschend halten zwei schwarze Citroëns neben dem Trottoir an. Drei Männer überfallen das Café. Ledermantel, rote Armbinde, dunkle Brillen, Maschinenpistolen, Revolver. Alles geschieht sehr rasch. « Police! Haussuchung! » Wenig Worte genügen. Die Karte ist trikolor durchgestrichen. Ein Tisch wird umgeschmissen, eine Bodenklappe aufgerissen. Ein fahles Licht brennt im Kellerraum. Du vernimmst noch auslaufende Maschinengeräusche. Schwere Schritte auf der Holztreppe. Und dann die laute Stimme. Karge Worte. Ein Schuss. Zwei Männer werden keuchend die Treppe raufgestoßen, die Hände über dem Kopf verschränkt, die Ärmel aufgekrempelt. Sie haben Tinte im Gesicht, Blut auf dem Hemd. Mit wirren Blicken gehen sie an dir vorbei, auf die Straße, wo sie in die Autos gedrängt werden. Auch den Cafébesitzer haben sie mitgerissen.
Seitdem ist es schon lange dunkel geworden. Das Café ist geschlossen, und du hast deinen Absinth nicht ausgetrunken.

Ohnmacht / Si c’est un homme

Ohnmacht
[Fresnes, Winter 1944]

„Es ist genug“, hat eine Stimme gesagt, und du bist kollabiert.
Wie lange warst du bewusstlos, wie lange?
Du hängst noch immer zwischen den zwei Stühlen, Hände und Füße an einen Holzbalken gefesselt, wie geschlachtetes Wild.
Das Blut pocht in den Schläfen,
die Augen wie geplatzt.
Sie haben dich verprügelt,
dir die Zehen zermalmt, die Nägel ausgerissen.
Klaffende Brauen,
schwärende Lippen,
Schlieren im Mund,
die Zunge angeschwollen.
Le sang palpite aux tempes,
la langue, suppurante,
les lèvres, plaies béantes.
Comme un gibier saignant…

Nun bist du allein in der Zelle, allein mit dem Brennen im Hals und dem Gestank des eigenen Urins und der eigenen Kotze. Ekel.
Noch lebst du also.

Auf den spasmischen Schmerz folgt die langsame Höllenfahrt, die Agonie.
Du hörst singende Stimmen, Wahnsinnsschreie,
das Grölen der Wächter, das Bellen der Hunde,
du lauschst den hallenden Schritten der Schatten. Sie werden wieder kommen.

So viele schlaflose Nächte, so viele finstere Tage. Und die machtlosen Tränen.
Mit einer Glasscherbe hast du deinen Namen und „Vive la France!“ in die schimmelnasse Wand geritzt, neben der Stelle, wo steht: „À ma mère, Courage! Richond Roland, 2 octobre 1943“.

Nein, sie werden dich nicht kriegen, du wirst diesen Todeskampf gewinnen.
Und morgen wirst du wieder leben.
Und du wirst wieder lächeln,
und du wirst wieder singen,
und du wirst wieder lieben.
Oder vielleicht …

« Si c’est un homme »

Une voix a dit « ça suffit », et tu as perdu connaissance. Combien de temps ?
Tu es toujours suspendu entre ces deux chaises, mains et pieds entravés, attachés à la poutre,
gibier agonisant.

Le sang palpite aux tempes,
tes yeux dilacérés.
Ils t’ont roué de coups,
tes orteils sont broyés,
tes ongles arrachés.

Les sourcils, plaies béantes,
les lèvres suppurantes,
la langue purulente.

Tu es seul dans la cellule,
seul avec cette brûlure à la gorge et la puanteur de ton urine et de tes vomissures. Dégoût.
Mais tu es en vie.

Après les convulsions, les spasmes de douleur, c’est la descente aux enfers, une lente agonie.
Tu entends des voix chanter,
puis des cris de folie,
les abois des gardiens,
le feulement des chiens.

Tu guettes les pas résonnants des ombres.
Tu sais qu’il faut tenir
parce qu’ils vont revenir.

Tant de nuits sans sommeil,
tant de jours sans lumière.
Seules tes larmes muettes.

Avec un bris de verre tu as écrit ton nom et puis : « Vive la France ! » au mur de moisissure,
à côté de l’endroit où un autre, avant toi, avait écrit : « À ma mère, Courage ! Richond Roland, 2 octobre 1943 ».

Mais ils ne t’auront pas, et tu vas gagner ce combat.
Et demain, tu verras,
tu réapprendras à aimer,
à chanter et puis sourire,

ou bien tu cesseras de vivre.